Ein Prozent

Die Veröffentlichung des Romans "Tschick" von Wolfgang Herrndorf im Herbst 2010 ging an mir und meiner Familie vorbei.

Während ich selbst 2010 vom Leben stark gefordert werde und Kontakt zu Kreisen habe, die heftig an der Vision vom Weltuntergang Ende 2012 basteln, erhält Herrndorf die Botschaft seines persönlichen Untergangs in Form eines Gehirntumors.
Während ich informiert werde, was zu tun ist, wenn die Wirtschaftskrise alles lahm legt und wie man sich und sein Eigentum am besten schützt, beschäftigt sich Herrndorf mit der Lahmlegung durch eine Krankheit, die für ihn drei Jahre später konkret tödlich enden wird.
Während ich an meinen Defiziten arbeite und versuche aus Mangeldenken herauszukommen, um zu erfahren, dass hinter dem Mangel ein weiterer Mangel wartet, sei es emotionaler Mangel oder Vitamin D, ist Herrndorf seine Zeit zu kostbar, um sie mit Gedanken an Krebsdiäten zu verschwenden.
Er stellt sich früh seinen Wecker um keinen Sonnenuntergang zu verpassen, wählt unter seinen begonnenen Manuskripten das heraus, das ihn realistisch für eine Beendigung zu Lebzeiten scheint und schreibt konsequent jeden Tag ein Kapitel.
Während ich in Kreisen verkehre, die quietschlebendig aus dem Kreislauf von Angst und Manipulation heraustreten will, um das nächste Szenario von Angst und Manipulation zu kreieren, lässt ein toddiagnostizierter Mensch in seinem Buch zwei durchbrennende Jugendliche über die Schlechtigkeit der Welt sagen:
Wenn man Nachrichten guckte: Der Mensch ist schlecht. Wenn man Spiegel TV guckte: Der Mensch ist schlecht. Und vielleicht stimmte das ja auch, und der Mensch war zu 99 Prozent schlecht. Aber das Seltsame war, dass Tschick und ich auf unserer Reise fast ausschließlich dem einen Prozent begegneten, das nicht schlecht war.
Während ich Kontakt zu Menschen habe, deren ganzes Bestreben darin liegt vom egobasierten ins herzbasierte Bewusstsein zu gelangen, schreibt ein Mensch ein Blog über seinen täglichen Gemütszustand - ein Sterbetagebuch. Er jammert dort nicht über die Ungerechtigkeit des Lebens, er versucht dem Leben, mit dem Tod vor Augen, Witz abzugewinnen.
Dieser Witz, das macht die unendlich humane Zartheit von Herrndorfs Tagebuch aus, hat nichts mit Zynismus zu tun, auch Galgenhumor trifft es nur zum Teil - in diesem hellwachen Witz behauptet sich ein Ich, das seinem Esprit treu bleiben will auch im Zustand des Unglücks. Wäre es nicht eine erbärmliche Niederlage, jetzt, auf den letzten Metern, plötzlich ein anderer zu werden? Nachdem Herrrndorf endlich einen Revolver hat, schreibt er am 10. August 2010: "Die mittlerweile gelöste Frage der Exitstrategie hat eine so durchschlagende beruhigende Wirkung auf mich, dass unklar ist, warum das nicht die Krankenkasse zahlt. Globuli ja, Bazooka nein. Schwachköpfe."
Zeit-Literatur Ausgabe November 2013
Herrndorf erschießt sich am 26. August 2013. Sein Sterbetagebuch gibt es nun als Buch: Arbeit und Struktur, Rowohlt Verlag, Berlin 2013.

Gäbe es ein Spiel, das uns die Vision erleben lässt, alles verloren zu haben, würden wir die Dinge, die wir haben, mehr wertschätzen? Gäbe es mehr Mutige, die uns teilhaben lassen am Sterben und den damit verbundenen Prozessen, könnten wir dann wieder mehr leben? Wenn wir wegkämen von all den Bildern, die uns jagen oder treiben, sei es die aus der Vergangenheit oder die aus der Zukunft, könnten wir dann mehr in diesem Augenblick leben? Könnten wir dann den Sonnenaufgang wie einer genießen, der weiß, dass es sein letzter ist? Könnten wir das eine Prozent erkennen?


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