Wir müssen reden

Habt ihr das WM-Spiel Mexiko gegen Kroatien gesehen?
Der Kommentator meinte, dass Trainer Miguel Herrera eine eigene Fernsehsendung bräuchte, so sehr amüsierte die Performance des mexikanischen Trainers am Spielfeldrand. Die Krönung war das Wälzen am Boden mit einem seiner Spieler, der ihn nach einem der Treffer vor Freude besprang. Die "Laus", wie er wegen seiner Größe von 1,68 m genannt wird, ist wie sie ist. Ungekünstelt, emotional, nah.
Mehmet Scholl meinte im Anschluss, dass Herrera eine neue Generation von Trainern zeigt, wie sie der Fußball in Zukunft braucht. Nah dran an seinen Spielern, einer von ihnen, authentisch.

In der ZEIT las ich kürzlich einen Artikel über den Karmapa. Der Karmapa wird nicht gewählt, sondern gefunden. Er ist nach dem Dalai Lama der zweithöchste spirituelle Führer im tibetischen Buddhismus. Der jetzige amtierende Karmapa ist erst 29 Jahre alt. Im Interview gibt es folgende Passage:
ZEIT:
Sie haben in diesem Gespräch oft von Ihrer "persönlichen" Ansicht gesprochen. Wie vereinbaren Sie sie mit den Zwängen, die sich aus Ihrer Rolle als spiritueller Führer ergeben? Gibt es da einen Widerspruch?
Karmapa:
Nein. Denn als spiritueller Führer ist es für mich wichtig, authentisch zu bleiben. Der zu sein, der ich bin. Ich will direkt mit Menschen in Kontakt treten, von Herz zu Herz, anstatt ihnen etwas vorzugeben. Manchmal erhalte ich den Ratschlag, weniger offen zu sein, nicht alles auszusprechen, denn es könnte ja missverstanden oder sogar missbraucht werden. Ich möchte aber offen sein, ich möchte Gefühle zeigen.
Der Artikel trägt die Überschrift "Wir müssen reden" und der Karmapa sagt folgendes (es geht um den Kampf der Religionen):
Das ist schon sehr lange so. Es ist lächerlich und gefährlich zugleich. Ich bin davon überzeugt, dass es Religionskämpfe in der Vergangenheit noch häufiger gab als heute. Heute ermöglichen die modernen Medien es nur, dass wir mehr davon erfahren. Deswegen ist es umso wichtiger, dass wir offen miteinander umgehen. Wir müssen reden. Es beginnt bereits damit, dass sich Menschen aus unterschiedlichen Kulturen regelmäßig und vor allem persönlich treffen. Wissen Sie, das Wort "Religion" wirkt auf mich inzwischen ähnlich unpersönlich wie "Politik" oder "Business". Doch in Wahrheit geht es beim Glauben um unsere ganz persönliche Ethik, um unser individuelles Wertesystem.
Rei Inamoto, einer der führenden Werber, meinte in einem Interview, dass Kreativität bedeutet unerwartete Lösungen auf bestehende Probleme zu finden. Und dass sich ein Unternehmen in einem Zeitalter der radikalen Transparenz dem Dialog mit den Usern stellen und in Kommunikation treten muss.

Im Fußball, im Glauben, in der Werbung sprechen sich Leute "vom Fach" für Offenheit, Authentizität, Emotionalität, Transparenz, Kommunikation aus. Das ist, was auch ich möchte. Weg von abgehobenem Autoritätentum, weg vom Kontakt zu Dingen, hin zum Kontakt zu Menschen, ehrlich sein, emotional sein dürfen, ich sein. Unerwartete Lösungen auf bestehende Probleme finden. Ideen interessanter finden als Erfahrungen. Damit sich was bewegt.

Vor kurzem hatte ich eine Situation, da sagte jemand zu mir "Wir müssen reden". Für mich war der Zeitpunkt des Redens vorbei. Abgelaufen. Meine Entscheidung war gefallen und vom Gespräch erwartete ich nicht Verständnis und Akzeptanz, sondern Vorwurf und den Versuch mich zu überreden, dass ich meine Meinung ändere. Irgendwann aber sind die Dinge klar und bedürfen keinerlei Rechtfertigung mehr. Dann geht es nur noch um Akzeptanz, denn das Verstehen von Entscheidungen ist nicht immer möglich. Entscheidungen stehen am Ende eines Prozesses. Den Prozess durchläuft man persönlich.
Gestern stand ich vor den beiden großen Papiermülltonnen, die für unseren Bürokomplex gedacht sind. Die Tonnen quollen über mit Umverpackungspappe. Keine Chance mehr meinen Alltagsbüropapierkram unterzubringen. In unserem Bürohaus gibt es einen neuen Mieter. Eine Praxis. Mit der Praxisinhaberin gab es bereits einige kleine Scharmützel. Nicht persönlich, sondern per E-Mail über die Hausverwaltung. Geändert hat sich nichts. Die Umverpackungspappen waren auf die Praxis adressiert. Ich war sauer. Als ich abends unser Büro verließ, brannte noch Licht in der Praxis und ich dachte mir "Ich klingel jetzt und sag es persönlich", denn ich will Kommunikation, Mut, Offenheit und Ehrlichkeit. Aber da wurde mir klar, dass mein Zustand an Emotionalität nicht der Sache dienen würde. Denn Kommunikation braucht Ausgeglichenheit.
Also nehme ich heute all meinen Mut zusammen und klingel an der Praxistür, versuche ausgeglichen mein Problem darzulegen und harre der Dinge, die sich bewegen dürfen. Ich gebe zu, dass mir gerade der Punkt "Ausgeglichenheit" nicht einfach fällt, aber erst darf ich mich bewegen, bevor ich erwarten darf, dass sich andere Dinge bewegen. Auf gehts - wir müssen reden.

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