Me too

Ein großes Thema in meinem Leben ist Vertrauen.

Das große Leid in meinem Leben ist gefühlter Verrat.

Die schlimmsten Ereignisse sind die mit Menschen aus meinem innersten Kreis, von denen ich mich verraten fühle - der damit einhergehende Vertrauensverlust und der damit verbundene innere und meistens auch äußere Rückzug.

Als Kind, das sehr früh von seiner Mutter verraten und Missbrauch ausgesetzt wurde, konnte ich keine Herzensbindung zu meiner Bezugsperson entwickeln.

Die größte Sehnsucht in meinem Leben war eine wahrhaftige Verbindung, ein wahrhaftiger Austausch mit einem anderen Menschen. Dafür war ich zu wirklich (fast) allem bereit.

Vor zwei Jahren habe ich mich in einem Moment der Schwäche und Verzweiflung von einem Menschen aus meinem innersten Kreis getäuscht und verraten gefühlt. Ich war in einem Ausnahmezustand, da ich einen Tag vorher beinahe eines meiner Kinder verloren hätte. Im Krankenhaus, in das ich mein Kind fuhr, erlitt ich einen Nervenzusammenbruch. Mein Zustand war desolat. Dieser Mensch bot mir Trost an und ich war bereit, ihn anzunehmen. In einem Moment des völligen Entblößt-Seins und tiefen (An-)Vertrauens, wurde ich völlig unerwartet beschimpft und statt Trost erhielt ich übergriffiges sexualisiertes Verhalten.

Eine sehr ähnliche Situation erlebte ich schon einmal in meinem Leben. Ich war vier oder fünf Jahre alt und entdeckte ein Geheimnis, das verborgen bleiben sollte. Die Erwachsenen machten das Problem, das sie durch ihr Verhalten erzeugten, zu meinem. Anstatt Verantwortung für ihr (Fehl-)Verhalten zu übernehmen, bestraften sie mich. Damit übertrugen sie ihr Problem auf mich. Ihr Verhalten war "unzüchtig", dafür wurde ich "gezüchtigt". Damit sie ihren Mund nicht aufmachen und zu dem stehen mussten, was sie taten, wurde ich "mundtot" gemacht. Ihre sexuellen Handlungen übertrugen sie auf mich, indem sie mich mit sexualisierten Handlungen bestraften. Sie nahmen mir meine Unschuld, damit ihre Schuld im Verborgenen blieb. Im Moment des Schockzustandes erhielt ich keinerlei Trost. Seitdem habe ich ein Problem.

Damals hätte ich einfach nicht eine Tür aufmachen sollen, nur weil mir langweilig war.
Vor zwei Jahren hätte ich mich nicht auf ein Angebot einlassen sollen, nur weil ich verzweifelt war.
Dazwischen gab es unzählige Situationen, in denen ich irgendetwas nicht hätte machen sollen, damit ich nicht immer wieder dieses Gefühl von Verrat empfinde.

Meine Reaktion auf empfundenen Verrat war Flucht. Ich habe unzählige Brücken hinter mir abgebrochen. Manche davon wahrscheinlich zu Unrecht. Ich interpretierte Verhaltensweisen als Verrat und war oft nicht in der Lage nachzufragen: Wieso hast du das getan? Wenn ich es schaffte, bekam ich als Antwort: War nicht so gemeint. Das musst du nicht so ernst nehmen. Wieso - was habe ich denn schon getan? Das bildest du dir ein. Ist halt passiert. Das Problem blieb bei mir.

Heute kann ich über dieses Kindheitserlebnis schreiben, ohne dass es mich wegbläst. Ich habe aufgehört mich zu schämen. Ich bin bereit mit diesem "Makel" zu leben. Me too. Ich wurde bereits als Kind angetatscht, als Jugendliche und Erwachsene ging es weiter. Was solls? Was ist denn schon dabei? Es waren keine Fremde, es waren Angehörige, Verwandte, Vertraute, Bekannte. Das ist genau der Grund, warum sich keiner für mich stark macht. Tatschen Fremde die Kinder und Frauen anderer an, ist das Geschrei groß. Werden Kinder und Frauen innerhalb des Familien- oder Bekanntenkreises angetatscht, dann will das doch keiner wirklich wissen. Dann hätte man ja ein Problem. Lassen wir das Problem lieber beim Angetatschten.

Das Aberwitzige eines solchen Verhaltens ist, dass das Kind lernt, die Verantwortung für das Fehlverhalten anderer zu tragen. Als Erwachsene(r) legt das Kind dieses konditionierte Verhalten nicht einfach ab. Den meisten ist es nicht einmal bewusst. Sie werden zu Menschen, auf die man getrost die Probleme abladen kann. Das ist bequem, man muss nicht selbst die Verantwortung übernehmen. Sie tun das. Sie sind das gewohnt. Und! Sie haben gelernt das auszuhalten.

Der Mensch, der sich zwei Jahre vorher übergriffig verhielt, bedeutet mir viel. Ich möchte diesmal nicht die Fluchtmöglichkeit wählen und so suche ich seit zwei Jahren nach einer anderen Lösung. Ich kämpfe gegen den Vertrauensverlust an - gegen das, was aus meinem Inneren schreit: Du kannst ihm nicht mehr vertrauen! Du kannst dich ihm nicht mehr anvertrauen! Das wird wieder passieren!

Heute kam die Lösung zu mir.
Es geht nicht darum, wem ich vertrauen kann und wem nicht.
Es geht darum, dass ich MIR vertrauen kann.
Es geht darum, dass ich aufhöre, die Probleme anderer zu meinen machen zu lassen.

Wie habe ich mich vor zwei Jahren verhalten?
Schon viel besser als all die Jahre zuvor, als ich dachte, Übergriffigkeit aushalten zu müssen.
Ich  bekam meine Enttäuschung in den Griff, sprang auf und ging.
Das Schlimme an all den Situationen war nicht die Übergriffigkeit an sich, sondern die fehlende Einsicht danach. Ein "Es tut mir so Leid, was ich getan habe, ich weiß gar nicht, was in mich gefahren ist, bitte entschuldige". Damit würden die Leute ihr Verhalten zu ihrem Problem machen - es bei sich behalten. Stattdessen sagen Sie "Was war denn jetzt so schlimm daran?" oder "Du machst da jetzt ein Problem wo gar keines ist". Sie schieben es rüber. Und was mache ich? Ich nehme es und fange erst recht an zu dramatisieren, indem ich meine Gefühle versuche zu rechtfertigen.

Wenn ich nun darauf vertrauen kann, dass ich in solchen Situationen mich für mich selbst stark mache, dass ich das, was sich in mir abspielt ernst nehme, dass ich mir selbst meine Würde lasse, indem ich mich entferne und für mich sorge - dann ist es gut. Dann spielt es keine Rolle mehr, ob mir eventuell jemand weh tun könnte, mich enttäuschen, meine Grenzen überschreiten, mich beleidigen. Wenn ich aufhöre, die Probleme anderer zu meinen machen zu lassen, mir ihr Verhalten als mein Problem übertragen zu lassen, wenn ich aufhöre, dramatisieren zu müssen, um dem anderen zu zeigen, wie sehr er mich verletzt hat, wenn ich aufhöre, nach Lösungen zu suchen für etwas, was nicht in meiner Verantwortung liegt, dann habe ich den Grad an Selbstvertrauen erreicht, der es mir ermöglicht, anderen ohne Angst zu begegnen.
Zwischen Erkenntnis und Umsetzung liegt eine Dimension. Ich schaffe das.

Ich vertraue mir selbst und darauf, dass ich mich in Sicherheit bringen kann, wenn nötig.
Ich vertraue mir selbst und darauf, die Fähigkeit zu entwickeln, Probleme, die durch das Verhalten anderer entstehen, bei ihnen zu belassen.

Jaja, ich weiß, da fehlt mal wieder nur das Amen. Denkt es euch ;-)


Dieser Beitrag ist Bestandteil einer Themensammlung, die Sie auf meiner Website unter "Traumatisierte Familien - Stricke lösen" finden können.

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