Irmas Enkel

Das Buch "Irmas Enkel" von Leandra Moor (tredition Verlag) erzählt die Geschichte einer Familie, die in einem kleinen Dorf in Anhalt lebt. Sie spannt den Bogen von Irma über ihre Tochter Helene zu deren Tochter Anni. Alle Frauen teilen das gemeinsame Schicksal, ihre Männer zu verlieren und sich alleine dem Leben stellen zu müssen.

Die Hauptfigur ist Irmas Enkelin Anni, eine einfache, gutherzige, lebensbejahende Frau, die ein schlichtes Leben führt, was aber durchaus glücklich hätte sein können, wenn nicht der 2. Weltkrieg dazwischen gekommen wäre. Jung und kinderlos wird sie Witwe und trifft eine Entscheidung, die ihr hartes Leben noch härter macht.

Ausgesprochen gut gefällt mir, dass aus Sicht der Frauen geschrieben wird. Wie war das damals, als die Väter, Männer und Söhne an die Front mussten und die Felder nicht mehr bestellt werden konnten? Wie erging es den Frauen, die Soldatennachwuchs gebären sollten und zwischen den Heimaturlauben ihrer Männer Kinder austrugen? Viele Bücher und Filme erzählen vom Soldatentum, von der Front, von den Kriegsgräueln. Wenig weiß man über die Frauen, die sich, die Alten und die Kinder irgendwie durchbringen mussten. Keiner fragte danach, wo sie ihre Kinder unterbrachten, wenn sie in die Fabriken oder an die Flak mussten. Niemand hat darüber erzählt wie es war, wenn der große Wunsch in Erfüllung ging und die ersehnten Männer und Väter nach Hause kamen. Die Bruchstelle, die der Krieg in fast allen Familien hinterließ, wurde nicht thematisiert. Was der Krieg den Männern angetan hat, darüber wird inzwischen geschrieben und gesprochen. Dass die Gewalt und das unsagbar Grauenhafte in die Familien getragen wurde, war lange ein Tabuthema. Vergewaltigung in der Ehe und Kindesmisshandlung, Resultate von seelischer Verrohung, waren vor einigen Jahren noch kein Delikt. Eheliche Pflichterfüllung und kindlicher Gehorsam waren selbstverständlich. Was aber macht der Existenzkampf an der Heimatfront aus den Menschen zuhause? Im Buch kommt eine Frau namens Edith zu Wort. Als Heimatvertriebene musste sie ein Kind auf der Flucht zurücklassen und ersehnt mit ihrem überlebenden Sohn Hugo die Rückkehr ihres Mannes herbei. Der Wunsch geht in Erfüllung. Während alle Frauen, deren Männer als gefallen oder vermisst gelten, sie um diese Wiedervereinigung beneiden, muss sie mit einem Menschen zusammenleben, der nicht mehr der ist, der er einmal war. So wie sie und der Sohn auch nicht mehr die sind, die der Mann in Erinnerung hatte. Sie überrascht ihn dabei, wie er den gemeinsamen Sohn, wegen vermeintlicher Respektlosigkeit, verprügelt und es kommt zu einer harten und heftigen Auseinandersetzung:
"Hugo weiß genug vom Krieg, viel zu viel für ein Kind, das kannst du mir glauben. Er war wehrlos, als der Russe kam und doch hat er gekämpft. Auf seine Art. Ihr Männer seid als Soldaten die Helden gewesen, doch uns Frauen hat keiner darauf vorbereitet, was passieren wird, wenn die Front in die Heimat rückt. Wir waren allein auf uns gestellt und wir hatten keine andere Wahl, als passiv zu erdulden, wofür sie euch Gewehre in die Hand gedrückt haben. Haben die Kinder einen Eid geschworen, Dinge zu ertragen, die sie nie wieder vergessen werden? Nein! Haben wir Frauen uns verpflichtet, mit unserem Leben abzuschließen und stattdessen unqualifizierte Kämpferinnen an der Heimatfront zu werden? Nein! Der Russe hat nicht nur euch Soldaten besiegt, sondern auch uns Daheimgebliebene. Davongejagt hat er uns und sich mit aller Macht auf uns gestürzt, nur hatten wir keinen Befehl zum Gegenschlag, der uns zu Helden gemacht hätte. Wir konnten lediglich erdulden, was das Schicksal für uns vorgesehen hat." Edith schrie und weinte zugleich. "Und jetzt wo alles vorüber ist, sollen wir Frauen euch bewundern, mit euch Mitleid haben und eure Verletzungen heilen. Wir haben unsere Schuldigkeit getan und nun sollen wir uns wieder zurückverwandeln."
Leandra Moor hat Familienforschung betrieben, nachdem es in ihrem Leben offene Fragen gab, die keiner beantworten wollte oder konnte. Das Titelbild zeigt ein Familienfoto. Die abgebildeten Personen lernt man im Buch kennen. Als ich geboren wurde, stand bereits die Berliner Mauer. Da ich keine Verwandtschaft im Osten hatte, bekam ich auch nicht viel mit vom Leben dort. In der Schule wurde die DDR ignoriert. Auf unserer Abiturfahrt nach Berlin besuchten wir für ein paar Stunden Ost-Berlin. Die Währung, die wir tauschen mussten, investierte ich in Kreidestifte. Die DDR war ein grauer Ort, den man möglichst schnell wieder verlassen wollte. Das Geräusch auf der Transitstrecke habe ich gut in Erinnerung. Deswegen finde ich es gelungen, dass Leandra Moors Geschichte im russischen Sektor spielt und den Übergang von der nationalsozialistischen in die sozialistische Diktatur beschreibt. Ihr Ton ist immer versöhnlich. Das Buch ist keine Abrechnung, sondern eine sehr spannende und durchweg stimmige Familiensaga. Es hat mich stellenweise tief berührt. Die Geschichten ähneln sich. Ob Ost oder West, der Krieg hat alle Deutschen, ihre Identität, ihre Familien verändert. Über allem lag lange Zeit das große Schweigen. Egal wo wir geboren und aufgewachsen sind, so verschieden wir uns auch in diesem vereinten Volk manchmal fühlen - unabhängig davon gibt es Menschen, wie Leandra Moor, die die Anstrengung unternehmen, Licht ins Dunkel zu bringen. Dafür bin ich sehr dankbar.

************ Werbung für ein Buch aus Überzeugung ************************************

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