Madonnen

Vor zwei Jahren mieteten mein Mann und ich ein kleines Stadthaus in Arta auf Mallorca.
Als mein Ladegerät seinen Dienst aufgab, empfahl uns der Hausbetreuer einen Chinese Shop. Der lag ein bisschen versteckt am Ortseingang, aber wir fanden ihn und staunend durchforsteten wir den Laden. Es gab nichts, was es nicht gab. Zum Ladegerät erstanden wir eine kleine Statue. Ich bin wirklich kein Fan von religiösen Devotionalien, aber die Madonna mit dem geöffneten Herzen hatte es mir angetan. Sie ist ein Symbol für tiefes Mitgefühl, hat sie doch das Schlimmste durchgemacht, was einer Mutter passieren kann: die Folter, Demütigung, Erniedrigung und Ermordung des eigenen Kindes ohnmächtig miterleben müssen.
Sicher eingewickelt reiste sie im Handgepäck mit uns zurück und bekam einen Ehrenplatz auf unserer Kommode. Da steht sie noch heute und sendet unermüdlich Mitgefühl aus ihrem geöffneten Herzen.

Nach der Trennung meiner Eltern hatte meine Mutter einen Freund mit deutschem Namen und südländischem Aussehen. Er war Siebenbürger Sachse, machte den besten Schweinebraten und ließ den auf dem Teller kalt werden, um unsere Tochter zu unterhalten, damit ich in Ruhe essen konnte. Er liebte unser Kind. Als meine Mutter dann ihren heutigen Ehemann kennenlernte, musste er gehen. Weinend rief er mich an und meinte, das Schlimmste an allem ist, dass er nun auch uns verliert. Wir waren ihm ans Herz gewachsen. Wortwörtlich sagte er: "Deine Mutter hat kein Herz". Die Frau ohne Herz verbot uns über ihn zu sprechen. Er wurde totgeschwiegen.

Jahre später fertigte ich eine dreiteilige Collage an. Der Mittelteil zeigt eine Madonnenfigur. Als Kind betete ich meine Mutter an. Sie war für mich die Größte, Schönste und Beste. Das Gesicht der Madonna ist hohl. Meine Mutter hatte keine Augen, die mich je gesehen hätten. Keinen Mund, der wirklich mit mir gesprochen hätte. Keine Ohren, die mir zugehört hätten. Sie hat ein Herz. Aber das Herz ist aus Stein. Wie sehr ich mich auch bemüht habe, nichts konnte dieses versteinerte Herz erreichen, geschweige denn erweichen. Sie hat Arme und Hände, die mich jedoch nie wirklich umarmt oder gestreichelt hätten. Die ausgestreckten Arme waren ein Zeichen von Bedürftigkeit und die Hände waren da, damit ihnen gegeben wird. Die hohle Madonna mit dem kalten Herz zog jegliche Lebendigkeit aus mir. Meine Wärme und Liebe versickerten jedoch auf dem Weg zu ihr. Der Abstand zwischen uns wurde immer größer und nichts von mir war so groß und stark, dass es sie je hätte erreichen können. Sie blieb unerfüllt und je größer ihre Leere wurde, desto mehr entleerte sie mich mit. Meine Mutter stellt sich noch immer gerne auf einen Sockel. Die Madonna mit dem Herz aus Stein. Ein Symbol für Unnahbarkeit und fehlendem Mitgefühl.


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Dieser Beitrag ist Bestandteil der Themensammlung Traumatisierte Familien - Warum Kontaktabbruch auf meiner Homepage.

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