Brief an meine Mutter III

Liebe Mama,

in deinem letzten Brief an mich hast du mir einen Rat gegeben: Ich solle die Vergangenheit ruhen lassen, Frieden schließen statt in Vorwürfen stecken zu bleiben. Das ist ein guter Rat. Ein sehr guter sogar.

Ich habe mir gewünscht, dass du mir zeigst, wie das geht. Dass du mir zeigst, wo der Weg aus den Vorwürfen heraus zu finden ist. Wie man das macht - mit der Vergangenheit abzuschließen. Wo man das Vorwerfen und Nachtragen hinkippt, um mit freiem, offenen Herzen die Gegenwart zu leben. Wie man Frieden findet. Ich habe mir gewünscht, dass du mir zeigst, wie stark du wirklich bist. Dass es möglich ist, sein eigenes Opferdasein zu überwinden, niemandem mehr die Schuld für irgendwas zu geben, sich selbst zu wertschätzen, zu lieben, zu verstehen, den Schmerz loszulassen. Leichter zu werden.


Als Kind habe ich dich zutiefst verehrt. Dann ist etwas passiert, was alles verändert hat. Ich habe die Welt nicht mehr verstanden. Zwischen uns war es nicht mehr warm und es ist auch nie mehr richtig warm geworden. Das hat mich verstört.

Dein Freund H. meinte, du hättest kein Herz. Du wärest herzlos.

Für mich hattest du ein Herz und ich wollte es immer erreichen. Aber was ich mir auch einfallen ließ, es reichte nicht aus, um zu dir zu kommen. Dein Herz lebte versteinert in einem Turm, umgeben von Kummerland, das mit Minen versehen und Stacheldraht umzäunt war. Jeder Versuch zu dir zu kommen, ließ mich zerrissener zurück.

Mein verletztes Kind fühlte immer dein verletztes Kind. Aber ich bin nicht deine Mutter oder Großmutter. Ich kann dir nicht geben, wonach du dich so sehr sehnst: Geborgenheit, Schutz, Aufmerksamkeit, bedingungslose Liebe. Ich bin deine Tochter. Mit denselben Bedürfnissen. Und der Unfähigkeit, dieses riesige Loch zu füllen, welches das Leben in dich gerissen hat.
Meine Erwachsene, die ich ja nun endlich sein sollte, kann nur lernen, sich selbst zu genügen.
Wie gerne wäre ich in deine Fußstapfen getreten, wärest du mir diesen Weg vorangegangen.

Wie gerne hätte ich mit dir Arm in Arm auf meine Tochter, deine Enkelin, bei ihrer Hochzeit geschaut. In dem Wissen, dass wir alle starke Frauen sind, die ihr Leben meistern. Was wir ja tatsächlich tun. Jede auf ihre ganz eigene Art.

Kürzlich habe ich gelesen, dass jemandem vergeben bedeutet, etwas zu einem Abschluss zu bringen.
Schon oft habe ich gedacht, dass ich dir vergeben habe, aber wahrscheinlich ist umfassende Vergebung ein Prozess, wie alles ein fortlaufender Prozess ist.

Du sollst wissen, dass ich dir vergeben möchte. Dass ich mir vergeben möchte. Auch dafür, dass es uns so schwer fällt zu vergeben. Dass wir so festhalten an unseren Verletzungen, Vorwürfen und Schuldzuweisungen. Dass wir beide so stark, stur und unfähig sind. Doch wir sind auch zu beglückwünschen: Wir werden geliebt. Sehr sogar. Mit all unseren Fehlern, Schwächen, Unzulänglichkeiten und Dramen.
Ich möchte uns beiden vergeben, dass wir es nicht geschafft haben, Wärme zwischen uns zu erzeugen. Wärme, die auch wohltuend auf unsere Liebsten gewirkt hätte. Herzenswärme.

Vielleicht schaffen wir es an einem anderen Ort, zu einer anderen Zeit, unter anderen Bedingungen.
Für dieses Leben ist es genug, im nächsten geht es weiter.

Ich wünsche dir von Herzen alles erdenklich Gute,

deine Tochter 




Beliebte Posts

Brief einer Mutter an ihren Sohn

Brief einer Tochter an ihre Mutter

Kontaktabbruch - Verlassene Eltern

Töchter narzisstischer Mütter

Kriegsenkel - Die Erben der vergessenen Generation

Du sollst dein Kind ehren

Esoterik I: Robert Betz - Der Mann fürs gewisse Zeitalter

Band ums Herz