Engel des Vergessens

Im Oktober verbrachten wir einige sehr schöne Herbsttage im Süden Kärntens.
Als Kind verschlang ich die Bücher von Karl May, später hörte ich von den Karawanken und träumte von einer Reise "Durchs wilde Karawankistan".

Aus den Fenstern des urigen Holzhauses, in dem wir Unterschlupf fanden, hatten wir einen traumhaften Blick auf diesen Teil der Alpen.

Im Haus, das einer Familie gehört, lag ein Buch mit einer dazugehörigen DVD aus - Der Graben.
Es geht um die Geschichte des Ortes Bad Eisenkappel/Železna Kapla und seiner Umgebung. Um die Geschichte der slowenischen Minderheit, die schon lange in den Tälern (genannt Gräben) auf Höfen lebt, und den Deutschkärtnern. Mich hat mal wieder das Trauma angezogen.

Im Buch schreibt die deutsche Regisseurin Birgit Sommer über ihre Beweggründe für den Film. Sie hat eine Geschichte gehört, die sie nicht mehr losließ.
Es ist die Geschichte eines Zwölfjährigen, dessen Vater zu den Partisanen ging. Viele der Kärtner Slowenen zogen nicht für die Nazis in den Krieg, sondern zogen es vor, sich als Partisanen in die Wälder zu flüchten und sie von dort aus zu bekämpfen. Ihre Familien blieben zurück auf den Höfen, die immer wieder von Partisanen zur Essensbeschaffung besucht oder auch überfallen wurden. Um an die Partisanen (es gab auch Partisaninnen) heranzukommen, wurden die Familien drangsaliert.
Dieser Zwölfjährige wurde von einem Polizisten mit einem Strick um den Hals an einen Baum gehängt und dort hängengelassen, bis er bewusstlos wurde. Dann heruntergelassen und nachdem er keine Antwort auf die Frage geben wollte oder konnte, wann sein Vater zum Hof kommt, wieder aufgehängt. Er überlebte diese Folter.
Birgit Sommer fragte sich, wie ein Mensch so etwas einem Kind antun kann. Wie er nach einem Tag, an dem er ein Kind gefoltert hat, Feierabend machen kann, um heimzugehen, im Kreis seiner Familie sein Abendbrot einzunehmen und seine Kinder im gleichen Alter ins Bett zu bringen. Sie befragte Zeitzeugen. Verwandte und Nachbarn spielten die Geschichten von damals nach. Im Film kam der Junge nicht zu Wort, aber ich begegnete ihm noch einmal.

Im Ort besuchten wir ein Schreibwarengeschäft und dort lag ein Buch aus: Engel des Vergessens von Maja Haderlap. Der autobiografische Roman einer Kärtner Slowenin, die auf einem der Höfe in einem der umliegenden Gräben aufgewachsen ist. Aufgezogen von der Großmutter, die als Frau eines Partisans ins KZ Ravensbrück verschleppt wurde. Tochter eines Mannes, dessen Vater bei den Partisanen war und dessen Mutter vom Hof gezerrt wurde. Sich selbst überlassen, von niemandem vermisst oder unterstützt,  sahen er und sein älterer Bruder den einzigen Ausweg darin, selbst zu den Partisanen zu gehen. Großvater, Vater, Onkel und eine Tante überlebten die Partisanenzeit, die Großmutter das KZ. Sie kamen wieder zusammen und lebten auf dem Hof.
Maja Haderlap beschreibt eine Kindheit unter Schwersttraumatisierten. Ihre Ängste um den Vater, der zeitlebens unter Wertlosigkeit und Bedeutungslosigkeit litt und zwischen (Über)Leben und Selbstmord taumelte.
Als sie bereits erwachsen ist, fordert ihn die Partisanenschwester bei einem Familientreffen auf, seine Geschichte zu erzählen. Und er spricht davon, wie er an einem Baum aufgehängt wurde, um seinen Vater zu verraten. Wie sie ihn danach aufs Polizeirevier mitnahmen und an eine Art Kleiderhaken hängten, um ihn auszupeitschen. Er war damals 12 Jahre alt. Zwei Wochen später schleppten sie die Mutter vom Hof, zerschlugen alles, auch seine Beine und überließen die Kinder sich selbst. Sein Bruder und er harrten einige Tage auf dem verlassenen Hof aus, eine Tante, die sich um sie kümmern wollte, sollte auch abgeholt werden. Sie schaffte es noch rechtzeitig zu den Partisanen zu flüchten. Da blieb ihnen nichts anderes übrig, als auch in den Wald zu gehen. In einen Wald, in dem es nichts zu essen gab, in dem kein Feuer gemacht werden durfte, weil es sie verraten hätte. Also mussten sie Fleisch, sollten sie mal etwas erlegt haben, roh essen. Die Kleider wurden nie ausgezogen, höchstens mal die Schuhe. Er wurde als Kurier eingesetzt, in der Angst lebend, entdeckt zu werden. Jagdwild, das immer zum Abschuss frei stand.

Im Buch von Maja Haderlap wird eine Geschichte lediglich gestreift, die wiederum im Film "Der Graben" erzählt wird.

So wie die örtliche Polizei und die SS die Familien drangsalierte, von den Höfen vertrieb, tötete oder in Lager verschleppte, so fielen auch die Partisanen über die Höfe her. Es gab sogenannte Listen von Verrätern, die Grundlage für "Säuberungsaktionen" waren. Der Krieg war offiziell vorbei, da holten sie hauptsächlich Frauen und Mädchen von den Höfen und töteten sie. Die Leichen wurden nie gefunden.

So entstand in den Gräben ein Graben zwischen zwei Volksgruppen, die einmal friedlich miteinander lebten, bis sie übereinander herfielen. Und über alles (Grauen) wurde - wie so oft - ein Mantel des Schweigens gelegt.

Im Buch sagt ein Zeitzeuge: Der schlechteste Friede ist besser als Krieg, denn im Krieg verrohen alle.



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