Wohin gehen wir?

Jörn Klare ist in einer Kleinstadt namens Hohenlimburg im Sauerland aufgewachsen.
Mit Anfang zwanzig zieht er nach Berlin. Als Autor und Journalist bereist er die Welt, lernt viele Leute kennen, kehrt aber immer wieder nach Berlin zurück.
Als die Kinder älter werden und die Mietwohnung zu groß, schaut er sich mit seiner Frau nach einer Eigentumswohnung in der Stadt um, ohne sich zu einer Entscheidung durchringen zu können. Irgendwann stellt sich ihm die Frage "Will ich mich dieser Stadt für immer anvertrauen?" Da sich die Antwort nicht so ohne Weiteres einstellt, geht er auf seine ganz persönliche Pilgerreise. Er läuft die sechshundert Kilometer von Berlin nach Hohenlimburg und schreibt darüber in seinem Buch "Nach Hause gehen - Eine Heimatsuche". Sein Weg aus Berlin heraus, führt ihn durch alte und neue Bundesländer. Überall trifft er Menschen, die er zum Thema "Heimat" interviewt und spürt auf 237 Seiten diesem Begriff nach.

Gegen Ende seiner Reise trifft er in einem Benediktinerkloster auf Bruder Andreas.
Die Gesprächspartner von Klare sind nicht dem Zufall überlassen, er hat sich angekündigt, mit seinem Thema. So konnte Bruder Andreas darüber meditieren. Geboren und aufgewachsen in Niederschlesien, musste er die Heimat mit siebzehn verlassen. Er landete in Oranienburg, wo sich die anderen Jugendlichen über seinen Dialekt lustig machten und ihn nicht ernst nahmen.
In diesem Moment wurde ihm klar, sagt er mit ruhigem, ernstem Blick, dass er seine Heimat verloren hatte. "Seitdem bin ich ein Fremder."
Das Gefühl des Heimatverlustes blieb. Eine Art Erweckungserlebnis führte ihn mit vierundzwanzig in die Abtei Königsmünster, die er jedoch nicht als seinen Bestimmungsort sah.
Verwirrt und ratlos reiste er zurück nach Bielefeld, weinte, betete und ging zu Bett. Als er am nächsten Morgen aufwachte, waren die Zweifel verschwunden, er fühlte sich berufen und kehrte hierher zurück. So eine Klarheit, sagt er, hat er nie mehr in seinem Leben empfunden. Sie trägt ihn bis heute.
Er reist später in seine alte Heimat, die heute in Polen liegt. Die Reisen lindern das Gefühl des Heimatverlustes nicht, sie verstärken es.
"Mir ist klar geworden, dass ich nie mehr eine Heimat finden werde." Ich bin irritiert und frage nach diesem Kloster, in dem er seit sechzig Jahren lebt. Er schüttelt den Kopf, sagt, dass ihm hier tatsächlich vieles vertraut ist, dass er es aber nicht als Heimat empfinden kann, weil er ja weiß, dass sein Leben hier nur vorübergehend ist. Seine Heimat sieht er im Himmel, sein Leben hier als Phase, um dorthin zu gelangen.
"Die ewige Heimat ist mir näher als die wirkliche. Die liegt heute in Polen, sie ist fremd. Von dem Himmel weiß ich aber schon eine ganze Menge."
Klare trifft sich ein weiteres Mal mit Bruder Andreas zu einer Klosterbesichtigung und stellt ihm die Frage, warum Heimat so wichtig ist.
"Das gehört zum Menschsein", sagt er, "dass einer eine Wurzel hat, dass einer mit der Landschaft, mit den Menschen, mit der Sprache so verbunden ist, dass man dazu "Heimat" sagt. Ich habe ja erst in der Fremde erlebt, was ich verloren habe." Er macht eine kurze Pause. "Es ist etwas sehr anderes, ob Sie vertrieben werden oder ob Sie freiwillig gehen."
Die Passage im Buch, in der Klare über seine Begegnung mit dem Mönch schreibt, berührt mich sehr.
Im Jahr 2006 stand ich in Krummau, das heute in Tschechien liegt, Český Krumlov heißt und Weltkulturerbe ist, vor der Gruft meiner Familie mütterlicherseits. Meine Großeltern habe ich nie kennengelernt, das Haus an der Moldau, in dem sie einst lebten, durfte ich nur von außen betrachten. Die Entwurzelung durch Vertreibung habe ich als Kind mehr gespürt als verstanden, wenn wir bei Tante Otti und Onkel Schorsch zu Besuch waren. Dort malte ich den Bären von Bärenmarke auf eine Postkarte, weil ich unbedingt das Preisausschreiben gewinnen und den riesigen Bärenmarkeplüschbären in meinen Armen halten wollte. Nebenbei lauschte ich den Gesprächen über die alte Heimat und betrachtete das von Onkel Schorsch gemalte Bild, das den Blick aus einem der Fenster meines Großelternhauses auf die Altstadt zeigte. Da war auch noch meine Tante Ilse, der immer die Schminke schwarz übers Gesicht lief, wenn sie Zwiebeln fürs Abendessen schneiden musste, ich aber nie wusste, ob sie echte Tränen dahinter versteckt. Ein Teil von mir nahm diese große Traurigkeit auf und fühlt sich noch heute heimatlos und entwurzelt.

Es gibt eine weitere Verbindung.
Unser Sohn lebt seit zwei Jahren in Thailand, um dort eine Ausbildung zum buddhistischen Mönch der Theravada-Tradition zu durchlaufen. Ich frage mich, ob er manchmal Heimweh hat. Er wurde nicht vertrieben, seine Heimat gibt es. Hat mein Gefühl der Heimatlosigkeit auch ihn erwischt? Fühlt er sich in Thailand mehr beheimatet als an dem Ort, an dem er aufgewachsen ist? Sieht er es ähnlich wie Bruder Andreas, dass dieser Planet hier keine wirkliche, weil nicht ewige Heimat sein kann? Konnte sein Wesen hier keine Wurzeln schlagen?
Denkt er manchmal an das, was den meisten Menschen Heimat bedeutet?
Was fühlt und denkt er, wenn der Regen in Sturzbächen an seiner Hütte vorbeirauscht?
Erinnert er sich an das Geräusch der Regentropfen, wenn sie auf das Dachfenster fallen, unter dem er für das Abitur und Studium büffelte? Vermisst er den Geruch seines Vaters, dessen T-Shirt er gerne mit ins Bett  genommen hat, weil ihm das Sicherheit und Nähe vermittelte und gut einschlafen ließ? Schmeckt er noch den Geruch von Opas Glatze, die er als Kind frech und mit großem Gekicher leckte? Vermisst er die philosophischen Diskussionen mit seiner Mutter beim Spätstück am Wochenende? Grinst er, wenn er an den obligatorischen Schnappschuss denkt, den wir jedes Jahr unter viel Geblödel für die Weihnachtspost inszenierten? Schmeckt er manchmal den Geschmack von Opas selbstgebackenen Lebkuchen? Würde er gerne mal wieder Butterplätzchen mit Schwester und Schwager ausstechen und ausgiebig vom Teig naschen? Vermisst er das Baden am Flussufer mit seinen Freunden? Erinnert er sich an die Wanderungen durch heimische Wälder mit riesigen Ahornbäumen und Buchen, unter denen man im Herbst wie unter goldenen Kuppeln läuft? Vermisst er den Geruch von Döner? Erinnert er sich an das Ritual des Döneressens mit seinem Vater, wenn er ausgehungert vom Schwimmunterricht kam? Weiß er noch, wie göttlich es schmeckt, wenn man morgens eine taufrische Frucht vom Apfelbaum pflückt? Fehlt ihm der Geruch von Flieder oder nassem Laub?

Die Frage, ob er sich der Stadt Berlin weiter anvertrauen möchte, beantwortet Jörn Klare nicht in seinem Buch. Die Frage aus dem Titel wird auf dem Rückumschlag beantwortet:
Wo gehen wir hin? -
Immer nach Hause.
Novalis

Ähnlicher Blogbeitrag "Heimweh".

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