Brief an meine Mutter

 Am 1.1.2021 klingelte unser Telefon.

Der zweite Ehemann meiner Mutter richtete uns aus, dass wir, auf ausdrücklichen Wunsch meiner Mutter, zum Kaffee oder Wein eingeladen sind.

Ich ging in mich.

So viele Jahre hatte ich auf ein Zeichen gewartet. Nun war es da. Das Fatale: Ich will es nicht mehr. Es passt nicht. Es passt hinten und vorne nicht. Wie soll ich nach über 13 Jahren Nicht-Kontakt wieder am Kaffeetisch meiner Mutter sitzen, über das Leben zu Corona-Zeiten plaudern und all das, was sich in den letzten 20 Jahren in mir entwickelt hat, wegwischen? Und: Ich bin so unendlich müde. Ich kratze all meine Energie zusammen, um meinen Alltag zu bewältigen. Ein Treffen mit ihr war schon immer ein Kraftakt für mich gewesen. Sie nimmt ohne zu geben. Sie saugt mich aus. Und merkt es nicht.

Um ihr nicht völlig Unrecht zu tun, hörte ich mich um. Ob es bei ihr Entwicklung gibt. Vielleicht hat der Lockdown mit seinem Rundum-Stillstand ungeahnte oder unerwartete Veränderungen bewirkt. Die Vertrauten, die ich befragte, winkten ab. Im Gegenteil - ihre Selbstbezogenheit verstärkt sich wohl.

Es gab einen Austausch über meinen Mann und dem Mann meiner Mutter per WA. Beide Männer zunächst Mittler, die dann doch Position bezogen. Die Meinungen drifteten auseinander. So wie die Meinungen zwischen meiner Mutter und mir seit jeher auseinanderdriften. Es zeichnete sich ab, wie das Treffen aussehen sollte. Wieder einmal wurde an mein Verständnis für das schwere Schicksal meiner Mutter appelliert. Einer Schlacht, die passiv-aggressiv geführt wird, fühle ich mich nicht mehr gewachsen. 

Ich schrieb einen Brief, in dem ich das erste Mal deutlich wurde:

 

Liebe Mutter, lieber W.,

ich möchte mich heute nocheinmal zu der letzten Korrespondenz äußern.

Vielen Dank für eure Einladung, die als Versöhnungsversuch gemeint ist.

Wie ich euch bereits über M. wissen ließ, ist für mich ein solches Treffen nicht die Art und
Weise, wie sich das jahrelange Schweigen zwischen meiner Mutter und mir wieder in Fluss bringen
lassen könnte.

Ich sehe heute, als Mutter einer erwachsenen Tochter, die ihr eigenes Leben nach eigenen
Vorstellungen gestaltet, wie anders doch die Beziehung zwischen meiner Mutter und mir ist.
Natürlich sehe ich ihr schweres Schicksal, das sie geprägt hat. Aber, wie ich bereits in meinem Brief
vor knapp 8 Jahren an W. erwähnte, kann doch dieses Schicksal nicht immer wieder als
Rechtfertigung oder Freibrief für all die Dinge herhalten, die an mir als Tochter versäumt wurden.
Und das nicht nur in meiner Kindheit, sondern auch an mir als erwachsener Frau.

Immer wieder wurde und wird an mein Verständnis für meine Mutter appelliert. Aber eine Beziehung
lebt von gegenseitigem Verständnis. Und das ist nicht gegeben. Seit ich denken kann, fühle ich mich
weder verstanden noch gesehen. Dazu möchte ich euch einige Beispiele geben:
 

  • Als Kind wurde ich ganztägig in einem katholischen Kindergarten untergebracht. Die Methoden, die dort angewendet wurden, würden heute als Folter, zumindest Misshandlung, gelten:
    Als Kind ekelte ich mich vor Pilzen. Ich weigerte mich ein Pilzgericht zu essen. Ich wurde
    gezwungen es aufzuessen. Ich übergab mich in den Teller. Eine Erzieherin setzte mich auf ihren Schoß, fixierte meine beiden Arme mit ihrem einen Arm, klemmte mir den Kiefer auf, löffelte mir das Erbrochene in den Mund und zwang mich zum Runterschlucken.
    Ich erzählte das meiner Mutter, mit der Bitte mich aus dem Kindergarten zu nehmen: keine
    Reaktion.
    Ich erzählte das meiner Mutter als Erwachsene und fragte sie, warum sie mich weiter dort
    hingeschickt hat. Mir wurde gesagt, dass ich nicht immer wieder die alten Geschichten aufwärmen solle. Als ich nicht lockerließ, bekam ich die Antwort: Das musst du verstehen, das war der einzige Kindergarten, der euch genommen hat.
  • Nach diesem Erlebnis wehrte ich mich massiv dagegen, in diese Aufbewahrungsanstalt zu gehen. Es gab einen Morgen, da musste meine Mutter mich hinzerren. Um mich gefügig zu machen, versprach sie mir, wenn ich brav sei, würde sie mir noch einmal am Fenster zuwinken. Ich war brav und wartete am Fenster. Gefühlt habe ich fast 50 Jahre darauf gewartet, dass meine Mutter erscheint und ihr Versprechen einhält. Aber sie kam nie. Meine Enttäuschung und das Gefühl des Verrats waren damals so groß, dass ich das Toben anfing. Ich wurde für Stunden ins kalte Klo eingeschlossen. Das war die gängige Erziehungsmaßnahme des katholischen Kindergartens, wenn man als Kind nicht spurte. Als meine Mutter mich abholen kam, wurde ihr die Geschichte vom „bösen“ Kind erzählt. Sie stimmte der Erzieherin zu. Es gab weder eine Entschuldigung für ihr gebrochenes Versprechen, noch Verständnis oder Trost.
    Ich erzählte das meiner Mutter als Erwachsene und fragte sie, warum sie mir nicht gewunken
    hat. Mir wurde gesagt, dass ich nicht immer wieder die alten Geschichten aufwärmen solle. Als ich nicht lockerließ, bekam ich die Antwort: Ich habe eine andere Mutter getroffen und mich mit ihr unterhalten. Ich hatte doch so wenig Möglichkeiten mit jemandem zu reden. Das musst du doch verstehen.
  • In meinem Leben gab es sexuelle Übergriffe. Als Kind war es der Gitarrenlehrer. Als ich meiner Mutter davon erzählte, sagte sie, ich würde mir das nur ausdenken. Später war es ein „Freund“ der Familie – da sollte ich mich nicht so haben. Als mich der Vater meiner besten Freundin belästigte und ich den Kontakt abbrach, weil ich Angst vor einer Vergewaltigung hatte, machte ich das mit mir selbst aus. Ich litt. Das blieb unbemerkt.
    Als mich meine Mutter als Erwachsene nach dem Grund für den Bruch dieser Freundschaft
    fragte, erzählte ich ihr die Geschichte. Ich war damals 43 Jahre alt, aber ich sehnte mich noch immer nach dem Trost meiner Mutter. Und nach Verständnis. Ihre Antwort: Was glaubst du was mir passiert ist?
    Ich sollte mal wieder Verständnis für sie haben.


Diese Liste ließe sich endlos fortsetzen.

Ich arbeite seit über 20 Jahre daran, mein (Innen-)Leben „in den Griff“ zu bekommen. Ich versuche
bereits mein ganzes Leben lang, Verständnis für die Empathielosigkeit meiner Mutter mir gegenüber
zu entwickeln. Ich arbeite seit 20 Jahren mittels Therapie und Seminaren daran, mit all diesen
Familiengeschichten den Kopf über Wasser zu halten. Ja Familiengeschichten. Denn zum schweren
Schicksal meiner Mutter kommt ja auch noch das Paket meines Vaters. Und ich kann euch sagen: Das
ist auch nicht ohne.

Liebe Mutter, lieber W., all die Jahre der Arbeit an meinem emotionalen Erbe haben mich
immens viel Kraft gekostet. Denn ich bin ja nicht nur Tochter schwergebeutelter Eltern, ich bin ja
auch noch Ehefrau, Mutter und Arbeitnehmerin. Da gibt es ja auch noch ein Leben zu leben. Und
auch wenn ihr euch das nur schwer vorstellen könnt – auch mein Leben ist kein reines
Zuckerschlecken. Es erfordert alle meine mir verbliebene Kraft.

Ich weiß nicht wie euer Leben ist. Unser Leben ist turbulent, mit vielen Unsicherheiten und
Veränderungen. Das kommende Jahr verlangt all unsere Flexibilität, unseren Fokus, unsere Kraft,
unsere Zuversicht.
Vielleicht habt ihr ja ein bisschen Verständnis dafür.

Bleibt gesund und vital

***


Dieser Beitrag ist Bestandteil der Themensammlung Traumatisierte Familien - Warum Kontaktabbruch auf meiner Homepage.  

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