Es gibt keinen Weg zurück

Seltsamerweise dachte ich einige Jahre hintereinander zu dem Zeitpunkt, wenn sich das alte Jahr dem Ende zuneigt und das neue noch nicht wirklich greifbar ist "Das wird mein Jahr!"

Ende letzten Jahres meinte ich zu meinem Mann "Das wird ein hartes Jahr".

Nichtsahnend oder vielleicht doch ahnend, dass bereits am ersten Tag des neuen Jahres wiederum ein Stein ins Rollen gebracht werden soll, den ich sorgsam versuche daran zu hindern.
Zunächst meine Neujahrsruhe optimistisch hütend, wurde ich mal wieder hineingezogen in den Wirbel und Staub, den ein unkontrolliert rollender Stein verursachen kann. Irgendwann ist es besser einzusehen, dass man gut daran tut, in Deckung zu gehen. Den Rückzug anzutreten. Aufzugeben.

Warum?

Weil mich die Kapitulation genau an den Ort bringt, den ich anstrebe. Um das einzusehen, braucht es wohl, wenn frau mit einer gehörigen Portion Kriegerinnenanteil ausgestattet ist, so etwas wie Altersdemut.

Auf meinen Brief voller Vorwürfe, erfolgte ein Brief voller Vorwürfe. Wie anders auch sollte es sein?
Der an mich gerichtete Brief enthielt die Frage "Was willst du erreichen?" "Dich! Dich will ich erreichen!"

Was will ich wirklich mit meinen Vorwürfen erreichen? Diese Frage stellt sich mir nicht nur in der Beziehung zu meiner Mutter.
Ich hege ja auch Vorwürfe gegenüber meinem Mann, manchmal meinen Kindern, meinen Brüdern, einigen Freunden. Wegen "Fehlverhaltens". Sie agieren oder reagieren nicht so wie ich es mir vorstelle/erwarte/wünsche. Und wer sonst noch alles fällt darunter! Politiker, die falsche Entscheidungen treffen, Medien, die Falschinformationen verbreiten, der Vermieter, der in der Krise ungerührt die Miete erhöht, die Energieversorger, die sukzessive alle Preise erhöhen, das Leben an sich, das immer teurer wird, immer mehr abverlangt. Und zu guter Letzt mein Körper, der dann Schwäche zeigt, wenn ich ihn on top bräuchte (Wann eigentlich brauche ich ihn nicht in Bestverfassung? Hmmm ...)

Ich frage mich, ob es mir besser gehen würde, ob ich aus meinen Vorwürfen herauskommen würde, wenn sich ALLE, die sich mir gegenüber jemals fehlverhalten haben, mit einem Kniefall vor mir entschuldigen würden. Gefallen würde mir das schon. Ich sehe mich vor meinem geistigen Auge auf einem Thron sitzen, das Hermelinmäntelchen um die Schultern gelegt und das goldene Zepter in der Rechten, mit dem ich jedem Kniefallenden gnädig die Absolution gebe. Träumen kann man ja. Die Realität sieht anders aus. Und die Vorstellung davon, in wie vielen Reihen ich mich einordnen müsste, um von anderen die Absolution für mein Fehlverhalten zu erhalten - gruselig ...

Willst du Gerechtigkeit oder Gnade?

Immer wieder entscheide ich mich für Gnade. Mir gegenüber, den anderen gegenüber.
Das ist eine Übung. Sie erfordert Training, Training, Training.
Zwischen Erkenntnis und Umsetzung liegt eine ganze Dimension.

Zurück zur Frage: Was will ich erreichen?
Ich möchte, dass die anderen verstehen, dass sie mir etwas genommen haben. Und ich will, dass sie das einsehen (entschuldigen dürfen sie sich selbstverständlich auch). Ich will, dass sie ihren Anteil erkennen an dem Ausmaß ihres Wirkens, der mich geschädigt hat. Sie schulden mir zumindest ihre Anerkennung für das Leid, das ich, wegen ihnen, trage. So! Das will ich erreichen! Arme verschränkt vor der Brust (Auweia oder Schmunzeln?). Also doch Gerechtigkeit!?

Nächste Frage: Was würde sich ändern, wenn meine Mutter sich entschuldigen würde für das, was sie mir genommen hat und dessen Verlust sich durch mein gesamtes Leben zieht? Mein Vertrauen.

Würde es sich dadurch wieder einstellen? Würde es die kalte Beziehung rückwirkend für die letzten 53 Jahre wärmen? Würde es mich zu einem anderen Menschen machen? Würde eine Entschuldigung über eine temporäre Genugtuung hinaus irgendetwas ändern? Wenn die Genugtuung verpufft ist, was dann?
Die Ahnung der Antwort hinterlässt einen unglaublich schalen Geschmack.

Nichts würde sich ändern.
Ich wäre immer noch die Frau ohne Vertrauen. Der Mensch, dem im Leben einige Dinge gelungen und einige misslungen sind. Ich würde weiterhin altern und mit den Dingen hadern, mit denen ich hadere. Einige Menschen würden mich, glücklicherweise, weiterhin lieben für das, was sie liebenswert an mir finden, weil ich bin, was ich bin. Manchmal großherzig, manchmal kleingeistig. Nicht weit weg von ihnen selbst.

Was also will ich erreichen?
Und ist das, was ich wirklich und tatsächlich erreichen will, abhängig von der Einsicht meiner Mutter oder irgendeines anderen?

Viele Jahre wollte ich Freiheit.
Igendwann wurde mir klar, dass ich mich in mein Dämonenloch begeben muss, um zu befreien, was sich dort versteckt hält. Ich hatte eine Scheißangst. Die Dämonen raubten mir immer wieder all meine Kraft und ließen mich in einem Zustand großer Schwäche zurück.
Was ich fand, war ein verdrängtes Kindheitstrauma.
Die Dämonen waren unbändige Wut, tiefe Traurigkeit, Hilflosigkeit und Ohnmacht, Schwermütigkeit, Verlassensein.
Ich tobte meine Wut mit Karate aus. Versuchte aus dem großen, zerstörerischen Feuer, das in mir loderte, ein kleines, heimeliges zu machen. Weinte den See der ungeweinten Tränen ab. Versuchte meinen Hunger nach Leben zu stillen. Begab mich ungeschützt ins Auge des Taifuns, als die Flashbacks mich Schritt für Schritt zum Höhepunkt des Geschehens führten.

Ich war denkbar schlecht vorbereitet auf das, was befreit werden wollte. Statt all den Emotionen, die sich mit dem Trauma nach oben drängten, wie eine Bändigerin entgegenzutreten, wurde ich geflutet und mitgerissen. Die einzige Möglichkeit war, sie in all ihrer Intensität zu durchfühlen. In der Hoffnung heil herauszukommen.
Als ich 1989 in eine Unterströmung geriet, es mich aufs offene Meer hinauszog, ich dann mit einer ziemlich geschrotteten Wirbelsäule wieder an Land gespült wurde, war mir klar, dass man sich manchen Kräften nicht entgegenstellen sollte. Es ist besser sich ihnen hinzugeben.
Heftige Emotionen sind wie eine Unterströmung. Sie ziehen dich weg vom sicheren Land.

Was will ich erreichen?
Nun habe ich dieses Abenteuer erlebt, mich den Dämonen gestellt und noch immer oder vielleicht sogar noch mehr, mache ich mich unfrei, indem ich mich abhängig mache vom Verhalten anderer.
Was fehlt?
Ich möchte mich befreien von meiner Erwartungshaltung, dass irgendwer irgendwas machen muss, damit es für mich genug ist.
Seit einiger Zeit sehne ich mich nicht mehr nach Freiheit, sondern nach Frieden. Es geht um Harmonie in mir selbst. Der innere Friede ist ja genau so labil wie der äußere. Das Gefühl von Ausgewogenheit währt nie lange. Irgendwas ist doch immer. Ataraxie liegt in weiter Ferne.

Was will ich erreichen?
Konstanten, inneren Frieden.

Wie kann ich den erreichen?
Ein Schritt wäre ganz sicherlich darauf zu verzichten, dass andere mir gegenüber irgendetwas zugeben müssten. Das bedeutet aber auch, dass ich nichts mehr zugeben muss. Weder die anderen noch ich müssen irgendetwas dazu geben. Es ist in Ordnung so wie es ist. Genau so wie es jetzt ist.

Während dieser meiner Reise, auf der mich nur sehr wenige innige Gefährten begleitet haben, hat sich etwas ganz deutlich abgezeichnet: Ich kann nicht mehr zurück an den Punkt, an dem ich ausgestiegen bin, um genau diese Reise anzutreten.
Zitat anderer: Da gab es doch mal eine Zeit, da war alles in Ordnung. Wenn es dir besser geht und man wieder normal mit dir reden kann, dann können wir ja an die gute alte Zeit anknüpfen.
Als am 1.1. eine Kaffeeeinladung meiner Mutter eintraf, wurde mir schlagartig klar, dass ich ein ganz normales Treffen nicht nur nicht mehr will, sondern schlichtweg nicht kann. Ich kann nicht mehr "normal" werden und musste noch mit Vorwürfen reagieren um mich zu rechtfertigen. Wäre früher alles besser gewesen, hätte ich diese Reise nicht antreten müssen. Ich kann nicht mehr an den Punkt meines Ausstiegs anknüpfen, weil ich nicht mehr die bin, die ich mal war und es diese Welt, die für die anderen die bessere Zeit bedeutet, für mich nicht mehr gibt. "Jetzt ist doch alles wieder gut!" Das würde vielleicht für die anderen gelten, aber nicht für mich. 

Es gibt keinen Weg zurück.



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