Einladung zum Kaffeeklatsch


Als ich heute Morgen die Kolumne von Harald Martenstein im aktuellen Zeitmagazin las, musste ich schmunzeln.
Der Kolumnist schreibt über die Kolumne einer Kolumnistin auf Spiegel online.
Und so wie die Kolumnistin austeilt, was Männer betrifft, so gibt Martenstein zurück, was ihm nicht geschmeckt hat an ihren "feministischen Thesen". Zickenkrieg unter Kolumnisten, denn es gibt auch männliche Zicken.
Zitat Martenstein, was Frau Berg geschrieben hat:
Langt es doch, dass sie (die Männer) sich durch den Anblick einer Frau ständig an die Peinlichkeit der eigenen Geburt erinnern lassen müssen.
Finde ich auch ziemlich weit hergeholt.
Martensteins Antwort :
Wenn aber ein Mann eine Frau betrachtet, dann denkt er mal an dieses, mal an jenes, aber er denkt, verehrte Frau Berg, so gut wie nie an die Peinlichkeit seiner eigenen Geburt. Meine Geburt war übrigens total schön, ich denke da gerne dran.
Das interessiert mich. Erinnern Sie sich an Ihre Geburt, Herr Martenstein? So wie an den letzten Urlaub? Ach ja, war total schön, denke ich gerne dran zurück.
Da ich kürzlich ein Foto von Ihnen gesehen habe, kann ich nicht glauben, dass Sie zu der Generation gehören, deren Geburt als großer Event im Kreissaal gefeiert wurde mit Videokameras, Camcorder oder zur Not mit der Kamera des Handys und dann für alle sichtbar auf youtube gestellt.  Dann wäre es nachvollziehbar, dass Sie denken, sich an Ihre Geburt erinnern zu können.
Auch wenn Ihre Familie oder Ihr Vater Fotos im Kreissaal gemacht haben, hmmm.... würde ja noch lange nicht heißen, dass Sie sich an die "Geburt" erinnern, denn die Geburt ist ja das Abenteuer der ersten Wehe über die Reise durch den Geburtskanal bis hin zum ersten Erblicken der Welt.
Wer kann schon von sich behaupten, dass er sich an seine Geburt erinnert?
Oder ... Herr Martenstein, mal ganz ehrlich, waren Sie auf einem dieser Seminare, an denen man seine Geburt durchläuft, um sich dann noch einmal neu zu gebären? Haben Sie Rebirthing praktiziert?

Das ist die erste Frage, die mich beschäftigt: Wie kann es sein, dass Herr Martenstein sich an seine eigene Geburt erinnert? Wäre er mein Nachbar, würde ich ihn gerne auf eine Tasse Kaffee einladen.
Die zweite Frage ist: Was werden all die Kinder, deren Geburt als großes Ereignis unter Zuhilfenahme aller zur Verfügung stehenden Elektronikspielzeuge digital gebannt wurde, deren Eltern bereits vor der Geburt Blogs einrichteten, um dann täglich der ganzen Welt die Wunder der Fortschritte ihres Sprösslings zu senden, all die Kinder, die in "Upps! Die Pannenshow" ihre Auftritte hatten, die für Lacher oder Schadenfreude sorgten oder auch einfach so auf youtube veröffentlicht werden, was werden all diese Kinder mit ihren Daten machen?
Vielleicht gibt es in Zukunft ein digitales Medium, auf dem alles gespeichert wird und das dann jeder zum Kaffeeklatsch mitnimmt und in der Runde vorzeigt "meine dramatische Geburt" "mein peinlichster Auftritt mit einem Jahr" "mein Tagebuch von -256 Tagen vor der Geburt über die ersten Ultraschallaufnahmen bis hin zu 370 Tage nach meiner Geburt über detaillierte Blogeinträge, in denen meine Eltern glaubten meine Gedanken lesen zu können". Weder die Zeit im Bauch der Mutter, noch die Geburt, noch die ersten Kinderjahre bleiben im Dunklen wie bisher. Es gibt dann keine Geheimnisse mehr, alles ist dokumentiert, aufgezeichnet, protokolliert.
Ich bin gespannt auf diese Zeit.
Ich habe mir gerne mein Kinderalbum angeschaut, das mein Vater kreiert hat. Kein Geburtsfoto, nichts Unappetitliches. Immer schön rausgeputzt auf dem Arm meiner Mutter, gestützt von meinem Bruder, gehalten von meiner Patentante. Es ist 1 Album und spannt den Bogen von meinem ersten Jahr bis hin zur Firmung. Dann endet das Album. Meine Kinder-  und Jugendzeit ist sehr übersichtlich dokumentiert, alles dazwischen ist reine Interpretation. Ich liebe dieses Album, das verziert ist mit liebevollen Zeichnungen und Anmerkungen meines Vaters. Es ist ein Schatz, ein Vermächtnis, eine Erinnerung.
Manchmal ist das, was wenig ist, umso wertvoller.
Und das, was zu viel ist, wird belanglos.

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