Die Summe unserer Anteile

Wir leben in einer Zeit der Trennungen.
Wenn ich Paare erlebe, die sich trennen, gibt es Vorfälle, die mich traurig stimmen. Was Partner sich untereinander antun, wenn aus Liebe Hass wird, ist schwer genug. Fatal wird es, wenn sie ihre Kinder als Instrument nutzen um sich gegenseitig noch tiefer zu verletzen. Am Ende sind es die Kinder, die beschädigt werden.
Kinder sind (meistens) eine Mischform aus mütterlichen wie väterlichen Anteilen und einem weiteren, der sie oft wie ein Alien in der Familie aussehen lässt. Lieben sich die Eltern, fühlen sich auch die elterlichen Anteile im Kind angenommen und geliebt. Fangen Eltern an sich zu hassen und beschimpfen den anderen, fühlt sich der jeweilige Anteil im Kind abgelehnt. Das, was aus einer Vereinigung entstanden ist, wird auseinandergerissen. Die Summe aller Teile beginnt im Inneren einen Kampf, adäquat zur Disharmonie im Außen. Kinder können keinen Frieden leben, wenn im Außen Krieg herrscht. In dem Moment, in dem ein Elternteil versucht, das Kind auf seine Seite zu ziehen, indem es den anderen Elternteil schlecht macht, zerreißt es das Kind innerlich, denn Kinder verstehen sich als Einheit von beiden. Sie fühlen sich verantwortlich für die Harmonie beider Anteile. Funktioniert die Harmonie im Außen, können auch die Kinder in Harmonie schwingen. Schwierige Kinder zeigen häufig die Schwierigkeiten der Eltern. Für die ist es einfacher am Kind rumdoktorn zu lassen, als sich den eigenen Schwierigkeiten zu stellen.

Wenn sich Eltern trennen und den Kontakt zueinander abbrechen, brechen sie nicht selten den Kontakt zu dem Teil des Kindes ab, das es vom anderen Elternteil in sich trägt. Wird das Kind auf eine Seite gezogen, wird es oft genötigt den Kontakt zu diesem Elternteil und damit zum eigenen Anteil abzubrechen. Alleinerziehende Elternteile, die sich den Anspruch erworben haben, allein erziehend zu sein, brauchen sich nicht zu wundern, wenn Kinder später auch den Kontakt zu ihnen abbrechen. Die Disharmonie wird weitergelebt.

Um die Summe der Anteile in Aufruhr zu bringen, genügt der strafende Blick eines Elternteils, das zu einer Aktion des Kindes sagt "Du bist wie dein Vater/deine Mutter". Der Elternteil distanziert sich von diesem Anteil, mit dem er sich nicht identifiziert. Kinder spüren, ob in solchen Worten Liebe oder Ablehnung mitschwingt. Der Elternteil versucht durch solche Worte das Kind emotional zu manipulieren und es zu einem anderen Verhalten zu bewegen. Statt die Person von der Aktion zu trennen und die Aktion an sich zu bewerten und zu sagen "Was du da gemacht hast, finde ich nicht gut, das kann man bestimmt auch anders lösen", wird ein ganzer Anteil abgelehnt. Heute würde man sagen - da wird ein Anteil gemobbt.
Es gibt auch die Variante "Mist, du kommst nach mir", ohne jeglichen Anflug von Humor, sondern mit einer Aura des Bedauerns einhergehend. Hier trennt sich jemand von sich selbst und das Kind damit doppelt.

Oft ist es gar nicht nötig eine tatsächliche Trennung durch Scheidung zu vollziehen. Sprachlosigkeit zwischen zwei Partnern, die nebeneinander herleben, führt zu Sprachlosigkeit bei den Kindern. Dann wird sich gewundert, warum sich Kinder im Erwachsenenalter nicht mehr melden. Da will der Schein gewahrt oder eine gewohnte Zweckgemeinschaft aufrecht erhalten werden. Da das Verständnis zwischen den Partnern fehlt, fehlt auch das Verständnis dafür, dass Kinder, sobald sie die Möglichkeit dazu haben, diesen Zombiegemeinschaften lieber fernbleiben. Eltern, die zu leb- und lieblosen Partnerschafts-Zombies geworden sind, saugen die Lebendigkeit aus ihren Kindern und lähmen sie.

Diese Woche las ich in einem Blog. Dort wurde die Frage gestellt "Müssen wir uns mit unseren Eltern versöhnen?". Für mich geht es in der Auseinandersetzung mit unseren Eltern weniger um Versöhnung als um Aussöhnung. So lange wir nicht das Verhalten unserer Eltern verstehen können, so lange wir sie ablehnen, vielleicht sogar hassen, so lange können wir uns selbst nicht verstehen, so lange werden wir uns ablehnen und vielleicht sogar hassen. Wenn wir Frieden in unserem Inneren finden wollen, gilt es Frieden mit den Ereignissen im Außen zu schließen. Wenn wir mit unseren Eltern keinen Frieden schließen können, werden wir auch nicht im Frieden mit dem Anteil, der sie in uns repräsentiert, leben können. Es geht hier für mich um Aussöhnung mit den Anteilen in uns.

In einem der Seminare, die ich besuchte, stellte mich eine "Trainerin" vor den Spiegel und forderte mich auf zu meinem Spiegelbild "Ich liebe dich" zu sagen. Ich brachte die Worte heraus, aber sie fühlten sich unwahr an. Ich liebte mich nicht. Nicht so, wie ich war. Es gab so viel an mir auszusetzen und rumzumäkeln. Schon immer. Seit ich mich erinnern kann. Im Teenageralter waren es Äußerlichkeiten, im Erwachsenenalter Charakterschwächen. Ich kämpfte gegen mich selbst, weil ich nicht akzeptieren konnte, was sich zeigte. Ich wollte meinen Eltern weder äußerlich noch innerlich ähneln. Aber das Leben meint es gut mit uns. Irgendwann weisen uns unsere Konditionierungen als Kinder unserer Eltern aus und wir können nicht mehr wegschauen. Das passiert meistens zu einer Zeit, wo wir die Reife haben (könnten) zu sehen und zu verstehen, warum unsere Eltern so sind wie sie sind, warum ihre Liebe zueinander gescheitert ist, warum wir so sind wie wir sind, warum unsere Liebe zu uns selbst gescheitert ist und was wir tun können um die ungeliebten, abgelehnten Anteile in uns wieder zu einer Summe zusammenzuführen.

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Dieser Artikel ist Bestandteil einer Themensammlung, die Sie auf meiner Website unter "Traumatisierte Familien  - Stricke lösen" finden.

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