Zumutung

In einem der letzten Zeit-Magazine (Nr. 47) stellt sich die Journalistin Nicole Zepter die Frage "Bin ich wie meine Mutter?". Der Artikel beginnt mit "Unsere Autorin fragt sich, warum sie wiederholt, was ihr zu Hause vorgelebt wurde. Die Geschichte einer schonungslosen Selbsterforschung".

Nicole Zepter erfährt am 18. Geburtstag von ihrer Mutter, dass der Mann, den sie bis dahin für ihren Vater gehalten hat, nicht ihr leiblicher Vater ist. Sie verlässt das Elternhaus und zieht zu ihrem Freund in die Stadt. 15 Jahre lang hat sie so gut wie keinen Kontakt zur Mutter. Sie studiert und wird erwachsen. Sie trifft die Liebe ihres Lebens und wird schnell schwanger.
Und dann, mit Mitte dreißig, war ich auf dem besten Weg, so zu werden wie meine Mutter, wie die Frau, die mich jahrelang belogen hatte, die mir so fremd geworden war. Ich hatte mich in einer Beziehung verfangen, die mich hinunterzog. Ich hatte geglaubt, dieser Mann sei die Liebe meines Lebens. Wie meine Mutter es von meinem Vater geglaubt  hatte, zu dem sie dann nach meiner Geburt jede Verbindung abgebrochen hat, den sie totgeschwiegen hat. Ich wurde, wie sie, nach nur wenigen Monaten schwanger: ein Wunschkind. So wie ich es auch gewesen war? Wie meine Mutter setzte ich alle Hoffnungen in diese Beziehung. Um mich dann doch nur in Streitereien zu verlieren, in Lügen und Verzweiflung. Wie meine Mutter machte ich mich klein. Innerhalb weniger Monate hatte ich mein Selbstbewusstsein verloren. Ich erkannte mich nicht wieder. Meine Beziehung zerbrach.
Als ich schließlich mein Baby in den Armen halte und daran denke, den Kontakt zum Kindsvater völlig einzustellen, wird mir all das erst richtig klar: Ich verhalte mich wie Mama. Ich bin wie sie. Ich habe ihre Rolle eingenommen. Und ich frage mich. Warum? Und: Wie komme ich da raus?
Heute glaubt man in der Regel nicht mehr an Schicksal. Das widerspräche der Vernunft, dem freien Willen des Menschen. Doch in diesem Moment fühlte sich mein Leben plötzlich an wie Schicksal. Natürlich wusste ich, dass es Muster gibt, in die wir verfallen und die automatisierte Reaktionen hervorrufen. Ich wusste, dass meine Eltern meinen Blick auf Männer und Frauen stark prägen. Aber ich wusste auch, dass ich ein selbstständig denkender und handelnder Mensch bin. Und ich dachte, ich hätte alles getan, um ein schönes Leben zu haben. Es klingt vermessen, das zu sagen, aber sogar: ein besseres Leben. Sagt man nicht, dass es die Kinder einmal besser haben sollen? Ich dachte ich mache es besser als meine Mutter. Und dann fand ich mich plötzlich in einer fast identischen Situation wieder. Ich fühlte mich wie die Marionette meiner Prägung.
Nicole Zepter beginnt eine systemische Therapie, die zwei Jahre dauern soll. Vor dem erstellten Familienbaum, der die väterliche sowie die mütterliche Linie aufzeigt, wird die Frage gestellt: Welche Themen tauchen immer wieder auf? Gab es Familiengeschichten, die immer wieder erzählt wurden? Der Kontakt zur Mutter wird enger, ihre Geschichte will erzählt und verstanden werden. Die Therapeutin fragt:
Wenn Sie jetzt sehen, dass Ihre Mutter damals ähnlich gehandelt hat und sich einen ähnlichen Mann gesucht hat, aus welchem eigenen Gewohnheitsverhalten ist dies entstanden?
Nicole Zepters Erkenntnis:
Was ich über Männer gelernt habe, habe ich von meinem Stiefvater gelernt. Dem Mann, mit dem ich aufgewachsen bin. Er war autoritär und unsicher. Er wusste, wie er mich vor meinen Freunden demütigen konnte. Meine Mutter hat sich Männer gesucht, die sie kleinmachten und dadurch selbst größer wurden.
Wenn meine Mutter von ihrem eigenen Vater erzählt, dann klingt es, als spräche sie von einem entfernten Verwandten. Ich kannte ihn als interessierten, wachen Opa. Doch sie sitzt vor mir und sagt nüchtern: "Opa war autoritär. Er schrie und schlug zu."
Die Mutter hatte einen Vater, der kleinmachte und suchte sich einen Mann, der kleinmachte, so wie die Tochter an einen Mann geriet, der es verstand sie klein zu machen. Die Männer versagten, wenn es um Nähe ging. Die Tochter wiederholt das Muster der Mutter.
In der Therapie sehe ich mich zum ersten Mal inmitten meiner Familie und denke: Obwohl ich mich so weit von meiner Mutter entfernt habe - ich habe studiert, bin in die Großstadt gezogen, gereist -, blieb ich doch in meinem Inneren, mit meinen Wünschen und Ängsten, die sich alle nun in dieser Wiederholung zeigen, ganz nah bei ihr. Auf der gesellschaftlichen Ebene sind Frauen scheinbar emanzipiert. Doch hier, im Individuellen, merke ich, die nach Außen hin immer selbstständig war: Der Weg ist weiter als ich dachte.
Der systemische Familientherapeut Helm Stierlin verwendet hierfür den Begriff "bezogene Individuation". Wer sich auf jemanden bezieht, obwohl er ihn ablehnt, ist immer noch abhängig von ihm.
Die Familie, das lerne ich in vielen Theapiesitzungen, hat eine sichtbare Macht über uns und eine unsichtbare. Sie ist das stärkste soziale Gefüge. Auch wenn wir sie ablehnen, richten wir uns nach ihr aus. Sie ist das Bezugssystem - auch wenn wir gegen sie opponieren.
Die Geschichte von Nicole Zepter nimmt einen guten Verlauf:
Zwei Jahre nachdem ich mit der Therapie begonnen habe, fahren meine Mutter, mein kleiner Sohn und ich zusammen in Urlaub. Es ist der Sommer 2013. Es geht mir viel besser. Ich fühle mich befreit von Bedürfnissen, die nicht meine waren. Ich habe das Gefühl, in wenigen Monaten um Jahre reifer geworden zu sein. Ich werde den Vater meines Kindes nicht verleugnen, die beiden sehen sich regelmäßig. Und ich genieße das Zusammensein mit meiner Mutter. Sie ist mir näher als jemals zuvor, vor allem auch deshalb, weil ich sie das erste Mal als Frau und nicht mehr nur als Mutter sehe.
Und doch lässt sie etwas nicht los:
Ich dachte immer, ich sei stärker als meine Mutter.
Auf die Antwort der Therapeutin:
Sie müssen ja nicht stärker sein.
erfolgt die befreiende Erkenntnis:
Das stimmt. Ich brauche es ja gar nicht zu sein. Ich bin gar nicht die, die ich zu sein dachte.
Die "bezogene Individuation" treffe ich zur Zeit gehäuft in meinem Freundes- und Bekanntenkreis. Da gibt es einen Mann, dessen Vater die Familie frühzeitig verlassen hat. Der Vorsatz "Ich mache es besser als mein Vater" hat ihn zu einem liebevollen Vater werden lassen, der dann in der Midlife-Crisis ein Verhältnis mit einer jüngeren Frau anfängt, dessen Fokus ausschließlich auf sich selbst und seinen Bedürfnissen ruht und der mit einem Schlag alles zunichte macht, was er sich aufgebaut hat. So wie er sich vom Vater distanziert hat, der die Mutter und ihn im Stich ließ, so distanzieren sich seine Kinder von ihm, die nicht verstehen können, wie ihr liebevoller Papa ihre Mutter so tief verletzen kann. Der Zeitpunkt des Verlassen werdens und des eigenen Verlassens ist unterschiedlich. Das Ergebnis identisch.
Da gibt es eine Frau, deren Mutter mit Heimarbeit den Ehemann bei der Abzahlung des Hauses unterstützte. Immer daheim, keine Reisen, keine schicke Kleidung, geschweige denn Schmuck, nur abzahlen und abwarten. Die Tochter will nicht nur träumen, sondern ihren Traum leben. Reisen, Schmuck, für jede Gelegenheit ein Fähnchen, Event auf Event - bezahlen tut der Mann, der zu Hause sitzt und wartet. Sie sitzt auf der anderen Seite wie ihre Mutter, aber ihre Überzeugung "Ich bin stärker als meine Mutter und mache es besser", schafft zwischen ihr und ihrem Ehemann die gleiche gähnende Leere, die sie in ihrem Elternhaus erfuhr.

So lange wir denken, dass wir stärker sein müssten als unsere Eltern oder unser Leben besser gestalten müssten, als sie es taten, nehmen wir in unserer Opposition Bezug auf sie, was uns unsere Entscheidungen nicht selbstständig oder unabhängig treffen lässt. Irgendwann erkennen wir, dass wir in denselben Mustern wie sie laufen, obwohl wir uns doch so stark abgegrenzt haben. Das ist frustrierend.

Auf einem systemischen Seminar erzählte uns die Seminarleiterin, dass sie trotz gehäufter systemischer Arbeit nicht wirklich weiterkam. Bis sie erkannte, dass es nicht darum geht besser oder stärker als unsere Eltern zu sein. Denn darin liegt ein Vergleich und im Vergleich liegt immer ein Bezug. Es geht darum, dass wir uns selbst die Erlaubnis geben es anders als unsere Eltern zu machen. Wer Eltern hat, der weiß, wie viele gutgemeinte Rat-Schläge ein Kind im Laufe seines Leben bekommt und dazu hingeführt wird es doch genau so wie seine Eltern oder es auf gar keinen Fall so wie seine Eltern zu machen. Ein Ausbruch, dem eine selbstständige, unabhängige Entscheidung vorausgeht, stellt immer eine Gefahr für den Familienverbund, fürs System dar. Es könnte auch anders gut laufen, vielleicht sogar weniger schmerzhaft oder weniger leidvoll und damit wird die Vorgehensweise und damit der Erhalt des Systems in Frage gestellt. Ausbrüche sind ein Risiko, das ungern befürwortet wird. Deswegen geht es nicht darum etwas besser zu machen, sondern dem System etwas zuzumuten. Mit einer Zumutung stellen wir keinen Vergleich und damit auch keinen Bezug her, sondern zeigen Vertrauen in die Stärke des anderen. Und so sollte es statt "Ich mache es besser als du" oder "Ich bin stärker als du" heißen:
Ich mute dir zu, dass ich es anders mache als du.
Dieser Vorsatz sollte nicht einhergehen mit "So mache ich das auf gar keinen Fall. So wie die/der will ich nie werden!", sondern mit der Frage:
Wer und wie will ich sein?
***

Dieser Beitrag ist Teil des Themenbereichs "Traumatisierte Familien - Stricke lösen" auf meiner Homepage.

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