Schwamm drüber oder die Täter-Opfer-Spaltung

Gestern stellte sich mir eine Frage:

Es gab viele Generationen vor uns, in denen Kinder NICHT von ihren Eltern gewollt und geliebt wurden. Fehlende Verhütungsmittel und die "eheliche Pflicht" erzeugten ungewollte Schwangerschaften. Oft im Übermaß. Was die Kinder nicht wertvoller machte.

Warum also tut sich gerade unsere Generation so schwer damit, wenn sie sich von den Eltern ungeliebt, missverstanden, nicht gesehen, körperlich und emotional missbraucht fühlt? Warum gibt es in unserer Generation diese Funkstille und den Kontaktabbruch? Gab es das früher nicht? Wurde früher wirklich so viel VERZIEHEN? Oft wird ja eingefordert, dass die Kinder das schwere Schicksal der Eltern verstehen und ihnen aus diesem Verständnis heraus vergeben sollten. Schwamm drüber, fordert eine Verlassene Mutter im Thread von Tina Soliman. Du musst verzeihen, erst dann findest du deinen Frieden, das habe ich schon oft gehört. Ist das so? Muss/kann/darf ich jemandem verzeihen, der seine Verfehlungen herunterspielt oder verleugnet? Der sagt "Ich bin unschuldig. Ich hab doch gar nichts gemacht!" Sogar in der katholischen Kirche muss man erst seine Sünden beichten bevor man die Absolution erhält. Der katholische Gott verzeiht nicht einfach so. Wenn nicht einmal Gott das tut, warum wird das von uns verlangt? Ich wurde in einem obskuren katholischen Glauben erzogen und bin somit auch zur Beichte gegangen. Dort galt nicht "Mein Magen hat so geknurrt, deswegen habe ich aus Nachbars Garten Kirschen geklaut. Das müssen Sie verstehen." Das hat der Herr Pfarrer nicht verstanden. Was hast DU GETAN? "Ich habe gestohlen, das tut mir leid, ich werde es nicht mehr tun, auch wenn mir der Magen knurrt". Ein guter Pfarrer erwiderte "Bete dein Vaterunser und geh zum Nachbarn um dich zu entschuldigen." Rechtfertigungen und Rausreden haben einen nicht aus dem Beichtstuhl gebracht.
Besagte Mutter hat ihrem Vater seine Taten verziehen und verlangt das nun auch von ihren Kindern. Schwamm drüber. Die Kinder wollen aber nicht mehr mit dem Schwamm alles auswischen, bevor nicht die Zeche bezahlt wurde und damit die Schulden beglichen sind.
Die Formel nutzen wir bis heute, wenn wir eine unangenehme Angelegenheit abhaken, nicht mehr über sie sprechen oder die ganze Geschichte einfach vergessen wollen.
Auf der Homepage von Professor Ruppert gibt es eine sehr gute Beschreibung der Täter-Opfer Spaltung (vom Opfer durch Verleugnen/Verdrängen zum Täter werden). Ein Auszug:

Wie findet man aus der Opferhaltung heraus?

Anerkennen des eigenen Opfersein, fühlen der eigenen Traumatisierung
Erkennen und Annehmen des entstandenen Schadens
Mitgefühl für sich selbst zulassen
Konkreten Ausgleich für den Schaden vom Täter einfordern, falls noch möglich
Verzicht auf Rache über den Schadensausgleich hinaus
Symbiotisch verstrickte Lösungsversuche

Rache: Täter vernichten und zerstören
Rebellion: gegen Täter blind ankämpfen
Verzeihen: Tätern Schuld und Scham abnehmen
Versöhnen: Harmonieideale jenseits einer Aufarbeitung des Opfer- und Täterseins
Zuflucht in der Spiritualität nehmen
Wie findet man aus der Täterhaltung heraus?

Anerkennen der eigenen Taten
Anerkennen der persönlichen Schuld
Zulassen der eigenen Scham
Mitgefühl für das Leid der Opfer
Bemühen um Ausgleich für den Schaden
Verzicht auf Sühne über den Schadensausgleich hinaus
Leben jenseits der Täter-Opfer-Spaltung
Beziehungssysteme verlassen, die in Täter-Opfer-Dynamiken gefangen sind
Gesunder Selbstbezug, gesunde Autonomie, gute Abgrenzung
Selbstachtung und Konfliktfähigkeit
Konstruktiv symbiotische Beziehungen leben
Win  -win   - statt win-loose-Situationen schaffen
Finden, was gesunde Angst, Wut und Liebe ist

Verzeihen und damit den Tätern Schuld und Scham abnehmen, Versöhnen und damit Harmonieideale jenseits einer Aufarbeitung des Opfer- Täterseins weiterleben - sprich mit dem Schwamm drübergehen - das ist einfach vorbei.

Allen Kindern, die unter ihrer Kindheit im Kreis ihrer Familie leiden, ihre Eltern mit deren Tätertum konfrontieren und bei konsequenter Verweigerung als einzigen Ausweg aus der Spirale der Opfer-Täter-Dynamik in Familien den Kontaktabbruch wählen, sei gedankt dafür, dass sie etwas nicht mehr hinnehmen wollen, was seit Generationen gehandhabt wird - mit dem Schwamm etwas auswischen, was nie angeschaut werden wollte.

Ich möchte behaupten, dass Kontaktabbruch, als Selbstschutz vor verleugnenden Eltern, ein Dienst an der Gesellschaft ist. Das Nicht-mehr-hinnehmen-wollen des Schwamm drüber bedeutet einen Austritt aus der Spirale von Missachtung und Lüge.

Wobei wir nicht vergessen sollten, dass auch wir Verantwortung für unser eigenes Tätertum übernehmen dürfen. Die Spielregeln gelten für alle. Wir sind Opfer und Täter in einem. Ohne Ausnahme.

***

Dieser Beitrag ist Bestandteil der Themensammlung Traumatisierte Familien - Warum Kontaktabbruch auf meiner Homepage.


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