Du sollst dein Kind ehren

Der Beitrag, der in meinem Blog am häufigsten aufgerufen wird, ist der über "Verlassene Eltern".

Vor einigen Wochen war ich in einem Forum, in dem eine Teilnehmerin einen Thread mit der Überschrift "Ich wünschte ich hätte andere Eltern gehabt" eröffnete. Ein anderer Teilnehmer reagierte mit einem Schrei der Entrüstung. Was auch immer man an Problemen mit den Eltern hat, so etwas dürfe man auf gar keinen Fall äußern. Warum aber nicht äußern, wenn dieser Wunsch da ist? Meine Erfahrung ist die, dass viele meiner Generation mit den eigenen Eltern hadern und das Eingeständnis eines solchen Wunsches bietet die Möglichkeit, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen.
Warum wünsche oder wünschte ich mir andere Eltern? An was hat es gefehlt und wo war es vielleicht zu viel? Diese Fragen führen oft zu den noch immer aktiven Sehnsüchten in uns, die nicht erfüllt wurden. Wir alle möchten geliebt und akzeptiert werden. In einer Leistungsgesellschaft wird das oft durch das Erbringen einer Leistung erreicht, die in der Gesellschaft gerade hoch im Kurs steht. Da wir keiner Gesellschaft angehören, die spirituellen Wachstum honoriert, ist es der Abschluss eines BWL- oder Jurastudiums, da dieser Aussicht auf Karriere und Geld verspricht und ein hohes Einkommen bringt Ansehen. Dem Kind und den Eltern. Was aber, wenn ich nun einen der heißbegehrten Plätze für ein duales Studium einer großen Firma ergattert habe, meine Eltern damit sehr stolz mache, mich selber aber tief unglücklich? Weil ich lieber Hebamme geworden wäre? Oder Mönch?
Was wir uns wirklich wünschen ist, dass wir nicht geliebt werden für das, was wir tun, sondern für das, was wir sind. Wir möchten geliebt werden ohne verglichen zu werden, ohne dass ein Maßstab an uns angelegt wird, den wir erreichen sollen, ohne den Rahmen ausfüllen zu müssen, der uns angelegt wurde.
Und wer anderes kann das tun als die eigenen Eltern?
Kein Erzieher, kein Lehrer, kein Chef liebt uns für das, was wir sind, sondern für das, was wir tun. Sind wir engagiert und doch zurückhaltend, leistungsbereit und beherrscht, gepflegt, aufmerksam und respektvoll, erbringen wir gute Noten und erzielen wir materielle Gewinne, dann passt das.
Eltern aber, wenigstens die, sollten uns dafür lieben, wer wir sind. Wenigsten sie sollten uns lieben ohne Bedingungen zu stellen. Wenigstens sie sollten uns nicht über unsere Leistungen definieren, sondern über das, was wir in unserem tiefsten Inneren sind. Auch wenn wir das selbst nicht so genau wissen. Sie könnten es wissen und spüren. Schließlich sind sie unsere Eltern.
Hinter diesem Wunsch liegt ein tiefes, ungestilltes, kindliches Bedürfnis "Sieh mich, liebe mich, nimm mich wie ich bin".

In meinem Beitrag über die Schwierigkeiten meiner Generation mit den eigenen Eltern schrieb ich bereits über die tiefe Loyalität, die uns förmlich zerreißt, wenn wir unsere Elternprobleme angehen. Schauen wir genau hin, sind wir voller Vorwurf, voller Enttäuschung und doch immer voller Sehnsucht nach dieser bedingungslosen Liebe. Ich las einmal, dass Vorwürfe verdorbene Wünsche sind. Verdorbenes stinkt und es vergiftet, wenn wir es in uns lassen. Unerfüllte Wünsche können uns ein Leben lang begleiten und aktivieren immer wieder das enttäuschte Kind in uns. Es gilt sich dieses Kindes anzunehmen in der Form, wie wir es uns immer von unseren Eltern wünschten. Diesem Kind in uns den Raum für seine Wut zu geben, wo es einmal herausschreien kann, dass es sich andere Eltern wünscht. Das Gift herausfließen lassen. Es gilt sich selbst gegenüber loyal zu sein. Wir wurden mit der Regel erzogen "Du sollst Vater und Mutter ehren", für mich fehlt die Regel "Du sollst dein Kind ehren", denn Kinder, die die Erfahrung gemacht haben, was es heißt einem anderen seine Würde zu lassen, die aufmerksam und respektvoll behandelt wurden, die geachtet und geehrt wurden, haben gelernt das auch zu tun. Kinder hören nicht auf das, was man ihnen sagt, sie machen nach, was ihnen vorgemacht wird. Sie sind keine Theoretiker, sie sind Praktiker. Nicht das Wort, sondern die Tat zählt. Erziehung aus Worten ist reine Konditionierung, die anerlernt wurde, aber nicht erfahren. Sie ist reines Befolgen, oft aus Androhung vor Strafe. Dazu gehört auch Liebesentzug in Form von Schweigen, wenn das Kind nicht tut, was es tun soll. Misshandlung in Form von Strafe muss nicht immer körperlich sein, auch emotionaler Missbrauch hinterlässt Verletzungen. Körperlicher Strafvollzug ist direkt, emotionaler Strafvollzug subtil. Beides hinterlässt Wunden.

Um diese fehlende Erfahrung nachzuholen, müssen wir unserem inneren Kind genau das geben, was es vermisste. Nicht unsere Eltern sind dafür zuständig, sondern wir selbst. Und das heißt uns zu lieben ohne Bedingung. Wenn dieses Kind in seiner Enttäuschung toben will, lass es toben. Beschränke es nicht wieder in Art deiner Eltern, mit erhobenem Zeigefinger und den Worten "Das darfst du nicht, das schickt sich nicht, das ist sehr böse und es macht mich traurig", denn damit schickst du es wieder in die Einsamkeit. Sag ihm "Du darfst und du darfst alles und ich bin da und pass auf dich auf". Lass es toben, danach kehrt Ruhe ein. Der entladenen Wut folgen oft Tränen. Das ist ein gutes Zeichen.
Wer solch eine Bemerkung "Ich wünschte ich hätte andere Eltern gehabt" als Blasphemie an den Eltern hält, der übt Blasphemie an sich selbst aus. Der hat sich selbst noch nicht herausgeholt aus seiner Sehnsucht und seinen Wünschen und wird eine Beziehung eingehen, in der er vom Partner das erwartet, was die Eltern nicht geben konnten. In einer Weiterentwicklung vom frustrierten Kind zum frustrierten Erwachsenen soll der Partner dann den Revoluzzer lieben, der sich gegen alles stellt, den Frustrierten, der sich am Wochenende volllaufen lässt und frühmorgens betrunken nach Hause kommt, den einsamen Wolf, der seiner Sexsucht nachgehen muss, den Minderwertigen, der innerhalb kürzester Zeit aus jedem Job aussteigt, weil alle anderen böse sind, die Unausgeglichene, die alles persönlich nimmt und rumzickt, die Gelangweilte, die stundenlang rumzappt und sich jede noch so miese Soap und gefakte Talkshow ansieht um ihren Selbstwert zu heben, den ewig Sehnsüchtigen, der keine Beziehung halten kann, weil er dem Verliebheitskick hinterherrennt, die Verantwortungslose, die gewissenlos abtreibt, damit nichts ihrem Fun im Weg steht, den Bestätigungssüchtigen, der am härtesten von allen arbeitet und in jedem Büro das Licht ausmacht.

Diese Anteile sind in vielen von uns, egal ob Mann oder Frau und so lange sie in dieser Form in uns sind, sind wir nicht raus aus unserer Pubertät. Wer erwachsen werden will, muss das Kind in sich ehren. Ohne Bedingungen. Es gilt uns selbst zu überzeugen mit dem, was wir tun. Und das erreichen wir nicht, indem wir in Selbstmitleid und Vorwürfen verharren, sondern indem wir Verantwortung für unser eigenes Leben übernehmen. Indem wir uns Selbstbefriedigung angedeihen lassen, was nichts anderes heißt, als uns selbst zu befrieden. Kein anderer kann das tun außer jeder von uns für sich selbst. Denn wir sind die Gesellschaft, jeder einzelne von uns. Ich und auch du. Jetzt.

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Weitere Beiträge zum Thema "Brief einer Mutter an ihren Sohn", "Band ums Herz".

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Eine Übersicht zum Thema finden Sie auf meiner Website unter "Verlassene Eltern und Kinder - Traumatisierte Familien". 


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