Deutsche (Eigentümer-)Nachbarschaft

Vor 14 Jahren zogen wir in ein Haus in einem Vorort der Stadt, in der wir nun seit 26 Jahren leben. Meinen Mann gruselte es vor dem Viertel, das mal Wald war und nun ausschließlich von Einfamilienhäusern, Doppelhaushälften und Reihenhäusern besetzt ist. Er nannte die beunruhigende Ruhe an diesem Ort "Friedhofsstille". Beruhigt hat uns die Gewissheit, dass wir keine Eigentümer, sondern lediglich Mieter sind und diesen satten, penibel geordneten Raum irgendwann wieder verlassen können.

Ich selbst genoss die Stille und setzte mich manchmal mitten ins unmöblierte Wohnzimmer, um den Geräuschen des Hauses zu lauschen. Da gluckerte nur die Heizung. Das stille Haus und ich wurden Freunde.

Kurz nach dem Einzug klingelte es an der Haustür und ich freute mich, einen Nachbarn von gegenüber zu sehen. Er kam gleich zur Sache und erklärte mir genau, wo und wo nicht ich die Abfalltonnen hinstellen darf. Ich hörte mir das an und begrüßte ihn dann sehr freundlich, stellte mich als neue Nachbarin mit meinem Namen vor, gab ihm die Hand und seitdem grüßt auch er mich. Das ist keine selbstverständliche Sache, wenn man als Mieter in eine eingeschworene Hausbesitzergemeinschaft eindringt, die bereits seit den 70er-Jahren Haus an Haus wohnt, deren Kinder gemeinsam gespielt und die in den (damals noch kalten) Wintern zu Silvester eine Schneebar vor den Garagen aufgebaut hat. Mitten unter diesen Menschen, deren Familienzeit nur noch Erinnerung und deren Aufgabe Besitzstandswahrung ist, lebten wir mit zwei Kindern, die am Beginn ihrer Pubertät standen. Exoten werden gerne beobachtet und beargwöhnt. Manchmal fühlten wir uns wie die Hauptattraktion im Zoo.

So nach und nach lernten wir die Eigenarten unserer Nachbarn kennen.
Unsere direkte Nachbarin zeigte sich großzügig, als unsere Tochter unsere Abwesenheit nutzte, um eine große Silvesterparty zu feiern. Einige der jungen Gäste tranken wohl zu viel Alkohol und der landete dann als Mageninhalt vor der Gartentür der Nachbarn. Da es ein eiskalter Winter war, gefror das Ganze zu einem unschönen Klumpen. Pragmatisch instruierte die Nachbarin unsere Tochter, dass sie den Klumpen mit heißem Wasser auflösen soll, um ihn dann in den Gulli zu fegen.
Was den (öffentlichen) Stellplatz und den Schneehaufen vor ihrer Haustür betraf, war sie weniger großzügig.
Noch vor dem Einzug machte sie mir klar, dass der Stellplatz vor ihrer Haustür "ihr" gehört. "Wir", bzw. unser Auto hat dort rein gar nichts zu suchen. Wenn ihre Tochter zu Besuch kommt, sucht ihr Auto allerdings sehr gerne den Stellplatz vor unserer Haustür auf. Wahrscheinlich ist das nicht "unser" Stellplatz, so wie es nicht "unser" Haus ist. Manchmal weiten sich Territorien mit einer gewissen Selbstverständlichkeit aus.
Wir erlebten Winter, in denen es heftig schneite. Wir wussten damals noch nicht, dass es auch Besitzansprüche für Schneehaufen gibt. Wir mussten für den Schnee vor "unserer" Haustür "unseren" Schneehaufen anlegen. Wir durften ihn auf keinen Fall auf "ihren" schippen.
Da wir  noch nie Eigentümer waren, können wir nicht aus Erfahrung sagen, ob Besitztum so etwas wie Verfolgungswahn nach sich zieht. Wir sind wohl eine Art Zigeuner in der Straße und wenn etwas nicht genau so ist, wie es sein sollte und immer war, wer wird dann verdächtigt? Na klar - die Zigeuner!
So wird dann behauptet, dass wir in ihren Garten eingedrungen sind, um den Rosenbogen zu verbiegen oder Steine aus dem Vorgarten klauen.
Das klingt absurd? Das ist deutsche Vorort-Realität!
Das einschneidenste Erlebnis, das mir klarmachte, dass wir nicht zur Gemeinschaft gehören, war ein Wasserrohrbruch vor der Haustür. Hätte sich nicht ein Mann, der zu Besuch war, ein Herz genommen, sich Schuhe und Strümpfe ausgezogen, um über den Gartenzaun zu steigen und an der Haustür zu klingeln, wäre unser Keller abgesoffen. Als ich die Haustür öffnete, bot sich mir ein Bild, das ich gar nicht so schnell einordnen konnte. Da war nur Wasser in unserem Vorgarten, bis zur Aufgangstreppe. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite standen Leute aus dem Viertel mit gezückten Handys und filmten. Endlich mal was los in der Straße! Filmen wir wie die Zigeuner absaufen. Wäre unsere Nachbarin nicht so damit beschäftigt gewesen, das Wasser, das in unserer beider Vorgärten sprudelte, von ihrem in unseren Garten zu schaufeln, hätte sie auf ihren Balkon gehen können, um uns Bescheid zu sagen. Wir saßen auf der Terrasse hinter dem Haus.
Mein Mann war auf Geschäftsreise. Wäre unser Sohn nicht gewesen, der unermüdlich das Wasser Richtung Gulli kehrte (bis die Feuerwehr geklärt hatte, dass sie das Wasser absperren darf), hätte Land unter geherrscht. Ein einziger Mann, ein alter Herr, bot seine Hilfe an.

Dieser alte Herr ist auch ein Nachbar. Er ist nett und ich mag ihn. Was ich nicht mag, sind seine riesigen Bäume auf dem Grundstück. Er hängt an ihnen und, obwohl von allen Seiten darauf angesprochen, weigert er sich hartnäckig sie zu kürzen oder - schlimmer - fällen zu lassen. Er identifiziert sich wohl mit ihnen. Links vom Haus steht eine riesige Fichte. Sie wächst weit über das Haus hinaus, ihre Zweige liegen auf dem Hausdach und ich frage mich manchmal, ob er keine Angst hat, von einem der unzähligen, genau so riesigen Tannenzapfen erschlagen zu werden. Vielleicht wäre das aber auch ein bevorzugter Tod - unter Tannenzapfen begraben - wer weiß. Um die Ecke wurde eine Frau beinahe von einem halb so großen Baum erwischt. Er entwurzelte bei einem der inzwischen heftig tobenden Stürme und zerstörte das Dach und das Dachgeschoss. Falls der Baum unseres Nachbarn entwurzeln sollte, würde er unser Haus verwüsten. Wir liegen in der Umfallschneise. Die Bäume fallen nach Osten. So wie der Westwind meistens nach Osten weht. Und damit all die Würstchen im Frühjahr und die Flitter im Spätsommer von seiner, ebenfalls, riesigen Birke, die rechts vom Haus steht.
Ich mag Bäume, aber diese Birke ist für einige Wochen im Jahr ganz und gar nicht mein Freund. Im Frühjahr liegen all die Birkenwürste wie Raupen in unseren frischgeharkten Gemüsebeeten und im Spätsommer kehre ich eimerweise die Birkenflitter zusammen. Sie sind überall und nisten sich zwischen allem ein wie Ungeziefer. Ich mag Wind, aber ich kann ihn nicht genießen, wenn ich von ihm mit einem Schauer von Flittern übersät werde.

Es gibt Tage, an denen ich still meine Demutsarbeit in Form von Kehren verrichte und mir vorstelle, wie ich die Flitter eimerweise vor die Haustüre unseres Nachbarn kippe.
Einmal im Leben ein Zigeuner sein!

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