Von Glück und Existenzangst

Letzte Woche erlebte ich einen Moment tiefen Glücks.

Es passierte, als ich durch die Tür eines Krankenhauses in die Sonne trat.

Mit einem dicken Mullpflaster an meinem rechten Handgelenk ging ich durch Licht und Schatten, den die Sonne durch hohe Bäume warf. Ich spürte die Wärme in den sonnigen Abschnitten und die Kühle in den schattigen. Keine Ahnung, wann ich das letzte Mal in meinem Leben so große Dankbarkeit und tiefes Glück empfunden habe dafür, dass ich einfach nur hier sein darf. Atmen, leben, lieben.

Wochen vorher Arzttermine, Untersuchungen, Eventualitäten.

Ich hatte eindeutige Symptome, die ich abklären lassen wollte. Innerlich war ich sicher, dass der Grund dafür die Aufregungen des letzten Jahres waren. Ein Umzug stand bevor. Ein ganzes Jahr voll mit Räumen, Verabschieden, Ausmisten, Achterbahnfahren lag hinter mir. "Wenn der Umzug erst mal vollzogen ist, verschwindet das alles wieder", wird der Kardiologe sagen. Da war ich mir sicher. Dem war nicht so. Seine Einschätzung lautete anders. Ich war leicht geschockt.

Mein Fahrrad durch den Park schiebend, versuchte ich den Schock schnellstmöglich zu verarbeiten, um dem Endspurt gewachsen zu sein. Immer wieder schob sich vor alles andere die Frage "Was will ich noch in mein Leben lassen?" So oft wusste ich, was ich nicht will. Diesmal kam völlig klar die Antwort, was ich noch will.

Eine Untersuchung im Krankenhaus stand bevor.
Mit unklarem Ausgang.
Meine Tasche gepackt für einen Aufenthalt, fand ich mich ein. Im Flügelhemd auf einer Liege wartend, zogen die letzten Wochen an mir vorüber. Das Telefonat mit unserem Sohn. So weit entfernt und doch so  nah. Er selbst im Umbruch, Aufbruch. Meinen beschwichtigenden Worten nicht so recht vertrauend, rief er seine Schwester an. "Ich brauche deine Einschätzung. Du bist näher dran". Sie: "Ich bin fürs Praktische zuständig. Ich hole die Mama aus dem Krankenhaus ab. Du fürs Emotionale". Ein weiteres Telefonat und seine Frage "Mama, was fühlst du?"

Im Januar dieses Jahres begann ich eine Ausbildung zur Hospizbegleitung. Als Vorbereitung las ich einige Bücher. Unter anderem das Buch von Bronnie Ware "5 Dinge, die Sterbende am meisten bereuen". Das Buch berührte mich sehr. Als ich selbst darüber nachdachte, dass meine Uhr eventuell abgelaufen ist, wusste ich, dass ich genug gelebt habe. Nicht, dass ich vollständig satt wäre. Da gibt es schon noch einiges, das ich gerne erleben würde. Aber die Frage, die sich mir wirklich stellte, war "Habe ich genug geliebt?"

"Ich habe Angst, dass ich nicht genug geliebt habe", war die Antwort auf die Frage meines Sohnes. Den Worten folgten Tränen. Diesmal berührte ich mich selbst.

Kein Gespräch mit ihm, ohne ein philosophisches Element.
Ich erzählte von meinem Besuch beim Hausarzt, mit dem ich den Befund des Kardiologen besprach. Immer einen Medizinstudenten im Schlepptau, erklärte er zu den Symptomen meine Lage "Corona, Selbstständig, Existenzangst".
Auf dem Heimweg wurde mir klar, dass das Wort "Existenzangst" völlig falsch verwendet wird. Es besteht eine wirtschaftliche Angst. Im schlimmsten Fall - wenn jegliches Einkommen wegfällt - ist meine Existenz jedoch in keinster Weise betroffen. Auch ohne Einkommen oder Auskommen existiere ich. Existenz bedeutet: Atmen, Leben, Lieben.
Meine Existenz ist also in keinster Weise abhängig von wirtschaftlichen Faktoren. Es bedeutet Veränderung - ja. Aber nicht den Tod.

Anscheinend hat mein Körper das Wort "Existenzangst", das wir für wirtschaftliche Turbulenzen verwenden, wörtlich genommen und sich "in seiner Existenz bedroht" gefühlt.

Die Untersuchung im Krankenhaus verlief mit günstiger Prognose.
Das Verlassen des Hauses der Kranken ließ meinen Körper die volle Existenz spüren. Die Sonne auf meiner Haut, in Abwechslung mit der Kühle des Schattens. Das pralle volle Glück.

Nun weiß ich, was damit gemeint ist, wenn es heißt "Ganz im Hier und Jetzt sein".

Aber hei - es heißt auch "Vor der Erleuchtung Wasser tragen, nach der Erleuchtung Wasser tragen".
Kaum eine Woche später, trage ich wieder Wasser. Das ist eben auch das Leben. Die Schonfrist ist vorbei. Ich akzeptiere das. Im Wissen, was ich wirklich will.
Lieben was das Zeug hält.



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