go and practise

Vor Jahren nahm ich wegen eines Kampfkunstseminars, das auf dem Balkan stattfand, Kontakt zum dortigen Organisator auf. Er half mir eine Unterkunft für unsere kleine Teilnehmergruppe zu finden.

Die Konversation war freundlich und höflich. Am Schluss des Schreibens stand ein Wunsch für mich. Die gewählten Worte und die damit verbundene Intention brachten etwas in mir zum Klingen.
Für die Seminarvorbereitung besuchte ich die Website des Dojos und betrachtete die Fotos der Mitglieder, die ich treffen sollte. Raue Gesellen. Ihre finstere Mimik ließ mich ein wenig gruseln. Immer wieder kehrte ich zurück zum Gesicht des Dojoleiters, der mein Ansprechpartner gewesen war. Irgendetwas an ihm kam mir vertraut vor, was mich beruhigte.

Zwei Wochen danach standen wir uns am Flughafen gegenüber.
Zu einem späteren Zeitpunkt meinte er "Du warst mir gegenüber so offen, ich konnte dich ungehindert erreichen". So etwas hatte mir noch nie jemand zuvor gesagt. Ich war interessiert an Energie, aber dass ein anderer die zwischenmenschlichen Energien wie ich auch wahrnimmt und sogar in Worte fasst, das war mir neu. Und es stimmte. Er strahlte etwas Vertrautes aus, was mich vertrauen ließ.
Nichtsdestotrotz beobachtete ich ihn.
In allem, was er tat, lag Hingabe, Zärtlichkeit und eine manchmal doch recht harte Strenge. Diese Mischung gefiel mir.
Ich hörte ihn nicht jammern, er wirkte müde und erschöpft, verlor jedoch nie den Blick, war präsent, aber zurückhaltend. Das hinterließ Eindruck.

Er wurde Freund und Begleiter. Das Leben auf der Matte war für mich immer ein kleiner Kosmos, der den großen Kosmos spiegelte. Wenn ich einknickte, strauchelte, frustriert war, nicht wusste ob und wie ich weitermachen soll, zweifelte und verzweifelte, dann war er da. Reichte mir seine Hand und brachte mich wieder zum Stehen. Ein Kampfkunstveteran, mit allen Wassern gewaschen. Ein Mensch, der viel erlebt hat. Am Ende seiner Nachrichten stand kein Wunsch mehr für mich, sondern eine Aufforderung:

go and practise
Er fehlt mir.
Es gibt so viele Fragen und so wenig Antworten. Ich würde ihn so gerne fragen, wo der Grat zwischen Empathie und Selbstentrechtung verläuft. Wie man es schafft, im Innen weise zu regieren statt emotional zu reagieren. Wie man vermeiden kann, dass der große Kosmos sich im kleinen Kosmos spiegelt.
Vielleicht würden mir die Antworten helfen, mein durchlässiges Sein unbeschadet durch die doch manchmal ziemlich heftigen Stromschnellen zu manövrieren. Es ist einfach schön, in all dem Gepurzel eine Hand gereicht zu bekommen, die einem wieder aufhilft.
Was auch immer er mir zurückgeschrieben hätte, das Ende seiner Nachricht wäre unumgänglich:

go and practise
Well, I do.

Danke V.



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