Verlassene Eltern und Kinder - Thema Entfremdung und Anspruch

Gestern war der Bayerische Rundfunk bei mir. Zu Beginn dieses Jahres erhielt ich von vier Fernsehsendern Anfragen. Sie recherchierten zum Thema "Verlassene Eltern - Wenn Kinder den Kontakt abbrechen", aber auch zu einer Dokumentation über "Narzisstische Eltern". Nun - ich entschied mich für einen regionalen Sender Interviewpartnerin zu sein. Den Ausstrahlungstermin der kurzen Sendung werde ich noch bekannt geben. In diesem Post möchte ich vorab darüber schreiben, was mich zwischen Anfrage und Dreh beschäftigte.

In den Vorgesprächen wurde desöfteren das Wort Entfremdung verwendet. Zunächst gefiel mir dieses Wort recht gut für das, was zwischen Kindern und Eltern passiert, bevor der Kontakt abbricht. Je öfter ich jedoch dieses Wort für meine Geschichte verwendete, desto mehr fiel mir auf, dass es nicht wirklich passte. Warum nicht?

Entfremdung setzt voraus, dass einem etwas vertraut oder zumindest nah ist, bevor es einem fremd wird. Meine Mutter und ich teilten eine räumliche Nähe, solange ich zuhause wohnte. Wir teilten keine emotionale Nähe oder Vertrautheit. Meine Mutter blieb auch in der räumlichen Nähe emotional fremd für mich. Als sich die räumliche Nähe durch meinen Auszug auflöste, wurde die emotionale Fremdheit deutlich sichtbar und (noch mehr) spürbar. Insofern entstand keine Entfremdung, die existierende Fremdheit zeigte sich erst in der Entnäherung oder räumlichen Distanzierung in ihrem Ausmaß.
Meine Mutter war sich selbst fremd und ich mir damit auch.

Eine der Schlussfragen lautete "Was müsste passieren, damit das Verhältnis wieder gut wird?".
Die Frage müsste heißen "Was müsste passieren, damit das Verhältnis gut wird?".
Über die Gründe, warum zwischen meiner Mutter und mir emotional kein Verhältnis entstehen konnte, habe ich lang und breit in diesem Blog geschrieben (gesammelt nachzulesen auf meiner Homepage unter Traumatisierte Familien).

Ich habe über diese Frage nachgedacht und mir wurde klar: Alles ist dynamisch. Jeder Mensch hat seine eigene Wahrnehmung und damit seine eigene Wahrheit. Jede dieser Wahrheiten ist gleichwertig. Es gilt sie stehen zu lassen und zu akzeptieren, denn keine Wahrheit ist wahrer als eine andere. Wenn nun zwei unterschiedliche Wahrnehmungen und damit Wahrheiten aufeinanderprallen, dürfen sie angeschaut werden. Dafür braucht es Auseinandersetzung. Auseinandersetzung besteht nicht in "Das magst du ja so sehen, aaaber ...", sondern in "Ich habe gehört, was du gesagt hast und werde darüber nachdenken. Lass uns später noch einmal darüber sprechen". Konstruktive Auseinandersetzung bedarf der Fähigkeit und dem Willen zur Reflexion. Noch einmal: Alles ist dymanisch, verändert sich, entwickelt sich. Ohne wahrhaftige Auseinandersetzung kann jedoch keine Entwicklung stattfinden. Die Dinge stagnieren.

Das ist, was zwischen meiner Mutter und mir passiert. Die Dinge stagnieren, weil es keine wahrhaftige Auseinandersetzung mit ihnen gibt. Für meine Mutter gibt es eine allgemeingültige Sichtweise und damit Wahrheit: Die ihrige. Und so lange ich nicht bereit bin, diese wie eine Schablone (wieder) über mich legen zu lassen, wird es keine Annäherung geben.

Was müsste also passieren, damit wir aus unserer emotionalen Fremdheit in eine Nähe übergehen können?
Entweder bin ich bereit die Wahrheit meiner Mutter wieder wie eine Schablone über mich legen zu lassen und meinen Platz in ihrem Konstrukt wieder einzunehmen, was für sie Nähe bedeutet und für mich Fassaden erhalten. Oder sie ist bereit zu erkennen, dass ein jeder Mensch seine eigene Wahrnehmung hat, damit auch ich und eine differierende von der ihrigen, und geht in eine aufrichtige Auseinandersetzung.
In beiden Fällen müsste ein Wunder geschehen.
Würde ich tun, was sie sich wünscht, würde ich mich wieder mir selbst entfremden.
Würde sie tun, was ich mir wünsche, müsste sie einen Großteil ihres Lebens hinterfragen und könnte sich selbst verlieren (oder finden).
Hätte ich eine Lösung, würde ich hier nicht mehr schreiben.

Eine der immer wieder aufkommenden Fragen ist "Wenn Ihre Mutter eine Therapie machen würde, könnte sich das nicht positiv auf die Annäherung auswirken?"
Den Therapieanspruch habe ich schon oft gehört und gelesen. Er wird meistens von denen gewünscht, die sich bereits mit dem Thema in Therapien oder Seminaren beschäftigt haben. Auch ich hatte diesen Anspruch an meine Mutter "Sie sollte ihre Traumata angehen und eine Therapie machen anstatt sie mit Freizeitstress zu überdecken und zu verdrängen".
Heute denke ich anders darüber.
Meine Mutter wird dann eine Therapie machen, wenn in ihrem Leben eine Notwendigkeit dazu auftaucht. So lange sie keine Notwendigkeit dazu sieht, wird sie das auch nicht tun. Wenn ich es von ihr VERLANGE, tu ich das, damit es MIR besser geht. Wer kann eine Garantie geben, dass es IHR mit einer Therapie besser geht. Oder dass es uns beiden dann miteinander besser geht? Sie alleine kann und darf für sich selbst entscheiden, was ihr gut tut. Wenn sie der Meinung ist, dass sie die alten Erlebnisse bis zu ihrem Lebensende verdrängen will, dann ist es gut, wenn sie es tut. Ich habe das zu akzeptieren. Es liegt in ihrer Verantwortung so für sich zu sorgen, dass ihr Leben erträglich ist. Ich habe diese Entscheidung zu ertragen. Und es liegt in meiner Verantwortung für mich zu sorgen. Wenn ich der Meinung bin "Ohne meine Mutter geht es mir besser als mit", darf auch sie meine Entscheidung akzeptieren und ertragen.


Dieser Beitrag ist Bestandteil der Themensammlung Traumatisierte Familien - Warum Kontaktabbruch auf meiner Homepage.



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