Die Sache mit dem Vergeben

Ihr Katholiken habt es gut. Ihr geht zur Beichte, bekennt eure Sünden, bekommt die Absolution, betet 3 Vaterunser und 2 Ave Maria, geht heim und könnt wieder sündigen - bis zur nächsten Beichte. Euch wird alles und immer vergeben.
Sprach mein protestantischer Vater, wenn meine katholische Mutter vom sonntäglichen Gottesdienst nach Hause kam und ihm unmissverständlich klar machte, dass er ihr nicht genügt.


Papa, ich glaube, ich verstehe, was du meinst. Aber es fühlt sich für mich noch so an, als würde dieser Verbrecher ungeschoren davonkommen, wenn ich ihm vergebe. Wie kann ich entschuldigen, was er getan hat? Ist es denn fair Missy gegenüber, wenn ich aufhöre, wütend auf ihn zu sein und ihn zu verurteilen?
Spricht Mack zu Gott, als der mit ihm über Vergebung spricht. Vergebung für den Mann, der Macks kleine Tochter Missy entführt und umgebracht hat.

Mackenzie, Vergebung entschuldigt überhaupt nichts. Glaube mir, dieser Mann ist wirklich alles andere als frei. Und es ist nicht deine Aufgabe, ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Darum werde ich mich kümmern. Und was Missy angeht: Sie hat ihm schon vergeben.
Antwortet Gott.

Willst du Gerechtigkeit oder Gnade?
Fragt Gott Mack, als es darum geht, dass Mack Rattengift in die Pullen seines alkoholkranken Vaters geschüttet hat, nachdem der ihn an einen Baum gebunden und ausgepeitscht hatte.
(Alle 3 Zitate aus "Die Hütte" von William Paul Young)


Ich möchte, dass Sie wissen, dass ich Ihnen vergebe.
Sagt Philomena zu der Ordensschwester, die ihren Sohn zur Adoption an Amerikaner verkaufte und dessen Wunsch nach Kontaktaufnahme zur leiblichen Mutter unterband, als er totkrank in das Kloster zurückkehrt, in dem er entbunden wurde. (Film: Philomena)

Man kann (giftigen) Eltern vergeben,
aber besser am Ende und nicht zu Beginn des emotionalen Hausputzes.
Susan Forward
Zitat zum Blogpost von Norbert Rogsch Warum ich denke, dass Vergebung für uns eine Falle sein kann.

 Du kannst dich nicht mit den Tatsachen abfinden.
Sagte der Maler zu mir, als ich nicht glauben und akzeptieren wollte, dass das Haus, in das wir einziehen wollten, nicht, wie es in der Maklerausschreibung stand, komplett gestrichen wird, sondern nur partiell.

Ich konnte mich tatsächlich nur schwer mit Tatsachen abfinden. Nahm es sehr persönlich, wenn sich jemand nicht an Abmachungen hielt. Darunter fielen Unpünktlichkeit, Unzuverlässigkeit, Verabredungen. Und .... das Einpassen in MEIN Bild, das ich mir von allem machte. Zum Beispiel dem Bild der Idealen Eltern. Es ist ein allgegenwärtiges Bild (ein Märchen?) und ich dachte, ich hätte ein Recht auf solche Eltern. Mir würde es zustehen Eltern zu haben, die mich bedingungslos lieben, mich beschützen, mich fördern, für mich da sind. Ich habe meine Eltern viele Jahre genau so wenig gesehen wie sie mich. Ich habe sie immer nur unter dem Filter meines Idealbildes gesehen, dem sie natürlich nie entsprachen - nicht entsprechen konnten.

Dann geschah ein kleines Wunder.
In einer Arztpraxis las ich in einem Buch von Steve Biddulph den Satz "Auch Väter möchten geliebt werden" und der machte was mit mir. Bis zu einem gewissen Zeitpunkt in meinem Leben dachte ich, dass mein Vater der Mensch in meiner Familie ist, der mir Probleme macht. Da hatte mich meine Mutter viele Jahre in ihr Boot geholt und ich ruderte, mehr oder weniger freiwillig, mit ihr. Seit ich denken kann, hat sie meinen Vater schlecht gemacht und ausgeschlossen. Wer nicht für sie war, der war automatisch gegen sie. Was derjenige zu spüren bekam.
Bei meiner ersten homöopathischen Anamnese fragte mich der Arzt, was ich gerne in meinem Leben verändern würde. Wie aus der Pistole geschossen kam von mir "Ich hätte gerne einen anderen Vater!" Dieser Satz versetzte mich in eine große innere Unruhe. Da begab ich mich wegen chronischer Nebenhöhlenentzündung in homöopathische Behandlung und dieser Arzt holt die zutiefst verborgenen Geheimnisse aus meiner Seele. Ich war völlig verwirrt und brach die Behandlung ab. Keiner durfte so etwas zutage fördern.
Ich begann zu hinterfragen. Warum wünschte ich mir einen anderen Vater? Es kamen viele Vorwürfe. Trotzig pochte ich auf mein Recht, den Idealen Vater haben zu wollen. Das Nachdenken sortierte. Ich erkannte all die Unzulänglichkeiten und Macken auf der einen Seite, aber auch all das Schöne Tolle Wunderbare auf der anderen. Allmählich erkannte ich, dass mein Vater mich liebte. Auf seine ihm mögliche Art und Weise. Als zweifache Mutter erwachsener Kinder kann ich heute sagen: mit schweren Macken auf eine demütige und dankbare Weise.
Auch Väter möchten geliebt werden.
Ich schickte ihm eine Karte mit den Worten "Papa, ich hab dich lieb".
Das waren die Zauberworte, die unsere Beziehung zu einem späten, aber innigen Blühen brachte.
Am Ende teilte er seinen Frieden mit mir. Höre ich heute das Wort "Vater", ist da ein Gefühl der innigen Zuneigung und ein Lächeln, das von ihm erwidert wird - wo auch immer er ist. Das ist Glück.

Das Jahr 2019 war für mich ein zutiefst emotional aufwühlendes und anstrengendes Jahr.
Ein einschneidendes Erlebnis war die Begegnung mit meinem älteren Bruder zu Ostern. In einem Gespräch wurden die uralten Gefühle der jüngeren Schwester, die sich vom älteren Bruder alleine gelassen fühlt, aktiviert.
Zu einem anderen Zeitpunkt hätte ich dem Arzt antworten können "Ich hätte gerne einen anderen Bruder!" Auch von einem älteren Bruder gibt es selbstverständlich ein Idealbild, in das meiner sich ganz und gar nicht einfügen lässt. Ich hätte mich ganz tief in meine unerfüllten enttäuschten Erwartungen begeben können. In meine Überzeugung, dass in meiner Familie doch wirklich keiner so ist, wie er sein sollte. Eingeschlossen ich selbst. Trotzig hätte ich auf mein Recht auf einen älteren, starken Bruder pochen können. Aber wozu? Ändert das irgendetwas? Irgendwen?
Was macht das mit mir? Wenn ich darauf beharre, dass jemand anders sein sollte, als er ist? Es versetzt mich in tiefe Unruhe und in noch tieferen Unfrieden. Und ändert nichts.

Es ist an der Zeit die Tatsachen zu akzeptieren.

Mein Vater war wie er war. Ein Mensch mit Fehlern, Schwächen und Stärken. Mein Bruder ist wie er ist. Es hat Gründe, ich kenne sie zum großen Teil nicht und würde ich sie kennen, würde das nicht heißen, dass ich sie alle verstehe. Wir sind in der gleichen Familie aufgewachsen und doch in völlig unterschiedlichen Welten.
Die Frage, die sich mir immer wieder stellt, ist: Wo will ich hin? Was ist mein Ziel?
Sei unerschütterlich. Nicht im Kämpfen, sondern im Lieben.
Ich möchte meinen Bruder lieben wie ich meinen Vater geliebt habe. Es ist ein tiefes Grundbedürfnis in mir. Größer und stärker als all die anderen Bedürfnisse. Möge meine Liebe größer und stärker sein als es ihr Unvermögen jemals sein könnte.
Und so ganz still und leise äußert sich dieses Gefühl, das aus den Tiefen meines Wesens an die Oberfläche drängt, auch für meine Mutter. Ich liebe sie. Ja! Ich liebe sie. Dieser Blog ist ganz und gar ihr gewidmet. Würde ich diesen Aufwand betreiben, mein Innerstes nach Außen kehren, wenn ich sie nicht aus tiefstem Herzen lieben würde? Völlig egal, ob diese Liebe erwidert wird oder nicht. Ich liebe. Egal, was zwischen uns passiert ist. Ich liebe. Weil ich nicht anders kann. Ich MÖCHTE lieben. Ich ENTSCHEIDE mich zu lieben. Das macht die Dinge nicht gut zwischen uns. Was sich ändert .... es gibt keine Schuld mehr. Sie ist unvermögend und ich bin es auch. Möge meine Liebe größer und stärker sein als es mein eigenes Unvermögen jemals sein könnte. Mit dem Eingeständnis meiner Liebe für meine Mutter lasse ich sie los. Aus meinen Ansprüchen und Erwartungen an DIE IDEALE MUTTER. Sie war es nicht und wird es (ohne ihr die Möglichkeit nehmen zu wollen) nicht. Was macht das mit mir?
Es lässt mich unglaublich tief atmen. Es wird ruhig in mir.

Das ist meine persönliche Interpretation von Vergebung.


Dieser Beitrag ist Bestandteil einer Themensammlung, die Sie auf meiner Website unter "Traumatisierte Familien - Stricke lösen" finden können.

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