Leserbrief einer verlassen(d)en Tochter I

Dieser Brief einer verlassen(d)en Tochter erreichte mich letzte Woche.
Ich bedanke mich sehr herzlich für das Vertrauen und die Freigabe zur Veröffentlichung in meinem Blog und auf meiner Website.

***

Hoch geschätzte Person hinter Leben-Zuhören, ich bin heute auf Ihre Seiten im Internet gestoßen... Jetzt sitze ich hier, lese einen Beitrag nach dem Anderen, fühle mich zutiefst verstanden und weine. Das tut gerade gut!
Ich bedanke mich sehr herzlich für Ihre Ausführungen und dafür, dass sie diese anderen zur Verfügung stellen! Ich bin sicher, es ist für viele Menschen eine sehr große Hilfe im - zeitweise schmerzhaften und anstrengenden - Prozess des Sich-mit-dem-Familientrauma-beschäftigens!

Ich fühle mich bewegt: durch Ihre Worte, Beschreibungen, Tipps und Anregungen. Zuerst aber einmal durch das beschriebene Schicksal, das mir so bekannt und vertraut vorkommt.

Es kreist in mir seit vielen Monaten der Gedanke, wie ich mit dem letztmaligen Abbruch der Beziehung zu meiner Mutter (ab April 2019) dauerhaft meinen Frieden machen und mich damit aufrichtig gut und frei fühlen kann. Ich fühle kein Unrecht, ich fühle mich erleichtert im Laufe des schon lange währenden Prozesses, aber es schmerzt immer wieder.
Ich habe das Gefühl, es fühlt sich für mich insoweit noch nicht abgeschlossen an, wenn ich z.B. an das Thema "Am Sterbebett..." denke.

Ich bin Jg. 1967, meine Mutter ist Jg. 1945. Meine Mutter ist das von Ihnen benannte Kriegskind, mit ihrer Mutter und dem neugeborenen Bruder (der mit drei Jahren unter traumatischen Umständen verstarb) in den letzten Kriegstagen aus dem Osten geflohen. Ich bin das älteste Kind, habe noch einen ein Jahr jüngeren Bruder und einen mehr als 10 Jahre später Geborenen. Unser Vater verstarb im Jahre 2003.

Ich bin mit 19 Jahren von zu Hause ausgezogen und habe seitdem mein Leben unabhängig von meinen Eltern gemeistert, jedoch meist einen mehr oder weniger engen Kontakt zur Familie gehalten.
Ich habe keine eigenen Kinder, jedoch aus meiner zweiten Ehe angeheiratete (20 und 16 J.). Mit diesen besteht ein guter Kontakt. Es wird viel gesprochen, erklärt, argumentiert zu allen wichtigen Themen des Zusammenlebens. Wir sehen uns gerne und lieben generell Familientreffen mit den Menschen, die uns respektieren und lieben!

Der Kontakt zu meiner Mutter ist seit Jahrzehnten brüchig, hat immer mal wieder eine zeitlang geruht und ist seit April 2019 - dieses Mal voraussichtlich endgültig - eingestellt. Ihr fehlt jegliche Akzeptanz für das Sein ihrer Kinder, jeder Respekt und Wohlwollen für uns und unser eigenständiges Leben. Sie selber akzeptiert keinerlei Kritik an sich durch ihre Kinder (vor allem durch mich als ihre einzige Tochter!); diese weist sie als unzumutbar und unzulässig zurück.
Und sie intrigiert und manipuliert nach Kräften ständig zwischen den Kindern (und teils deren Anhängen), um stets einen Aufhänger für ihre Empörung über die fehlende Harmonie in der Familie zu haben.

Einige der Hauptprobleme, die es in meiner Ursprungsfamilie fortwährend gab:

1. in unserer Familie wurde über nichts gesprochen, Probleme blieben unberedet, Diskussionen gab es nicht (auch nicht zwischen unseren Eltern).

2. Kinder galten in unserer Familie immer als untergeordnetes "Eigentum" der Eltern, ohne eigene Rechte und Pflichten als gleichwertige Personen einer Familie. Familienoberhaupt war der Vater.

3. insbesondere meine Mutter hat in ihrem Leben immer wieder Dinge getan, die wir Kinder nicht verstanden haben und die sie uns zeitlebens nicht erklärt hat. Wir wurden damit bis heute stets alleine gelassen, waren im wahrsten Sinne des Wortes von ihr verlassen.

4. meine Mutter empfindet in ihrem Kreisen-um-sich-selbst bis heute keinerlei Verantwortung für die Entwicklung ihrer Kindern und die desolate Familiensituation. Verantwortlich sind immer alle Anderen, insbesondere ihre drei Kinder.
 
Ich kann - und will - nicht mehr damit leben, im Umgang mit ihr für all das verantwortlich gemacht zu werden, was sie unglücklich macht und in ihrem Leben schief gelaufen ist. Sie ist eine zutiefst negative Person, die stets die Dinge von der schlechtesten Seite betrachtet. Alle bisherigen Kontaktpausen zu ihr waren durch von mir geäusserte Kritik an ihrem respektlosen Verhalten uns/mir gegenüber ausgelöst. Ihre Strafe für mich war jedes Mal eine eiserne Schweigehaltung und unerbittliche Verweigerung des Kontaktes ihrerseits. Meinem Mann hat sie kürzlich gesagt, dass sie wegen der für sie "vernichtenden Kritik" mit mir keinen Kontakt mehr haben könne (wolle).

Aber wesentlich wichtiger für mich: ich kann nicht damit fertig werden, wie sie uns im Stich gelassen und bis heute keinen Versuch unternommen hat, uns ihr Verhalten nur ansatzweise nachvollziehbar zu machen.

Für mich ist klar: wir waren und sind bis heute von unserer Mutter (und ihrem guten Geist) verlassen! Meine Mutter ist eine Person in meinem Leben. Eine, die mir nicht guttut. Aber auch eine, die ich niemals los werde, die ich daher so in mein Leben integrieren muss, dass es für mich erträglich, aushaltbar ist.

Ich habe immer um ihre bedingungslose Anerkennung und Wertschätzung gekämpft - stets vergeblich. Sicher nicht immer mit schlauen oder besonders geeigneten Mitteln und Wegen, aber immer mit guter Absicht. Dabei habe ich mich oft verbogen, verleugnet, verrannt, etc. Meine Mutter hat stets erwartet, dass man sich entschuldigt und sie einem in unermesslicher Großmut "verzeiht".

Der Prozess, mein Familientrauma aufzuarbeiten, ist inzwischen recht weit fortgeschritten. Nach dem letzten Kontaktabbruch und einer längeren Pause habe ich mehrfach deutlich zu verstehen gegeben, dass ich den (zumindest respektvollen) Kontakt mit ihr will, bevor wir die von Ihnen benannte Situation "Am Sterbebett" haben.
Ich habe u.a. das Angebot gemacht, in einer geführten Mediation darüber zu sprechen, wie wir einen ordentlichen "Arbeitston" zwischen uns herstellen können, damit wir uns nicht zwanghaft bis zum Lebensende aus dem Weg gehen müssen. Es geht mir dabei nicht (mehr) um Aufarbeitung unserer Familiengeschichte, nicht um "Eindringen, Aufdecken, Aufarbeiten" oder zwanghaften Familienfrieden.
Aber: alle meine Versuche sind mit Schweigen und Kontaktverweigerung ihrerseits beantwortet worden. Je länger das nun andauert, desto bewusster wird mir, dass ich für mich nur durch Loslassen etwas bewirken kann. Festhalten tut mir nicht gut und ist nicht sinnvoll! Eine Kommunikationsexpertin riet mir letztlich, ich solle den Kontakt einstellen. Schweigen sei ein so brutales Mittel der Kommunikation, gegen das man nicht "gewinnen" könne. Das ist schwer, aber nötig.

Ich habe mich zu einem - äußerlich - starken und selbstbewussten Menschen entwickelt. Ich kämpfe stets um Anerkennung, Wohlwollen, Achtung, Respekt für mich und meine Umwelt. Ich beschäftige mich mit mir und anderen, übe mich bei jeder Begegnung mit meinen Mitlebewesen, auch in Geduld, Verständnis, Selbstlosigkeit.
Ich arbeite seit Jahren in unserer örtlichen Hospizbewegung. Ich bin Sterbebegleiterin und gut darin, im Jetzt zu leben, das Unveränderbare hinzunehmen und gute Momente "zu sammeln". Ich liebe es, mit mir alleine zu sein, ich schätze aber auch die Gesellschaft, Freundschaft und Verständnis von anderen! Ich habe gelernt, was mir gut tut und auch mal NEIN zu sagen. Mir geht es objektiv gut. Ich habe alles, was mich befriedigt, vieles was mich bereichert und was ich mir für ein gutes Leben vorstelle und wünsche.
Nur deshalb kann ich auf die desolate Beziehung zu meiner Mutter schauen und diese meist gut akzeptieren.

Dass ich damit aber noch nicht ganz fertig bin, erkenne ich daran, dass ich oft über unsere Familie und die Beziehungen untereinander nachdenke. Ich habe Phasen von heftigen Schlafstörungen, die durch Bilder, Gedanken und Ängste bestimmt sind. Mich quält mehr als der nicht mehr vorhandene Kontakt zu meiner Mutter das Wissen, dass ich nicht mit  wohlwollenden und respektvollen Eltern aufgewachsen bin. Ich hadere damit, dass ich eine Mutter habe, die ihre Kinder wieder und wieder im Stich gelassen hat und lieber (aus unerfindlichen Beweggründen und unter mutmaßlich eigenem Leiden) die Beziehung zu ihrer Tochter einstellt, als sich einer (auch nur ansatzweisen) Selbstkritik zu stellen und Verantwortung für ihre Familie zu tragen.
Sie verweigert damit ihren Beitrag zu einer funktionierenden Familie. Das ist eine so bittere Erkenntnis, dass ich sie nicht einfach in Frieden "beiseite legen" kann. Ich sehe hin, nehme hin, aber verstehe einfach nicht. Hier muss ich einen Weg finden, damit umzugehen.

Nun habe ich auf ihren Seiten so viel "Material" zum Nachdenken gefunden, dass ich vor Erleichterung weine. Ich freue mich darüber, dass ich nicht die Einzige bin, der es mit dem Kontaktabbruch zur Mutter so geht wie mir. Sie sprechen so viele Dinge an und aus, die ich exakt so gefühlt und gedacht habe, dass es schon unheimlich (bewegend) ist.
Ich habe Freunde, Zuhörende und Ratgebende, die mir gut tun und viel bedeuten, bei denen aber das Vermögen bzw. das Verständnis beim Thema "traumatisierte Familie" aufhört. Gerne wird das relativ schnell mit den Worten: "...aber es ist doch deine Mutter..." deutlich gemacht. Da steht man dann am Ende doch wieder nur mit sich selber da...

Nochmals herzlichen Dank für Ihre Hilfe zur Selbsthilfe und für Sie das Beste!
Es soll stets bewusst sein: Es gibt vielleicht ein Leben nach dem Tod, aber ganz sicher gibt es eins davor!

Beste Grüße

Beliebte Posts

Brief einer Mutter an ihren Sohn

Brief einer Tochter an ihre Mutter

Kontaktabbruch - Verlassene Eltern

Töchter narzisstischer Mütter

Kriegsenkel - Die Erben der vergessenen Generation

Du sollst dein Kind ehren

Esoterik I: Robert Betz - Der Mann fürs gewisse Zeitalter

Band ums Herz