Deutsche Freiheit: SUV und Kreuzfahrt

In den Jahren, in denen ich Kampfkunst praktizierte, habe ich eine Sache erkannt: Freiheit hängt nicht von äußeren Dingen ab, sondern ist ein Zustand im Inneren. All das, was uns im Westen als Freiheit verkauft wird, sind lediglich Scheinfreiheiten.

Als ich jung war, bedeutete Freiheit ein eigenes Auto, in dem ich so laut Musik hören konnte wie ich wollte und mit heruntergekurbeltem Fenster den Sommer einsog oder die Autobahn entlangbretterte. Die Freiheit hörte in dem Moment auf, in dem mir ein anderer Autofahrer hinten auffuhr und meine Freiheitskiste in einen Totalschaden transformierte.
Später klapperte ich die Strände auf der Suche nach Freiheit ab. Im Herbst 1989 befand ich mich an einem Inselstrand, der in einem Hochglanzmagazin unter den Top Ten  der Strände mit den spektakulärsten Sonnenuntergängen an erster Stelle stand. Der Sonnenuntergang war tatsächlich eine Schau, der Strand ein Traum, die Menschen, die sich dort tummelten überwiegend gestrandet und ständig bekifft. Eines abends, nach einem wiederholt spektakulären Sonnenuntergang, schleppte ich Holz zum Strand und entzündete ein Feuer. All die Strandmenschen wurden angezogen und erzählten sich Geschichten von Freiheit und Abenteuer, während sie sich weiter zukifften. Bei mir wollte sich kein Gefühl von Freiheit einstellen. Im Gegenteil, die Situation bedrückte mich. Mir wurde klar, dass sich Freiheit nicht am Strand finden lässt.

Heute höre ich Geschichten von Menschen, die auf ein großes Schiff steigen, das einem Bienenstock ähnelt. Sie schlafen in einer der Waben und werden tagsüber zum Ausschwärmen an einen Inselstrand gekippt. Dort wälzen sie sich im warmen Gewässer, sammeln fleißig Souvenirs, die sie abends in ihre Waben tragen, begleitet von der "Großen Freiheit" des Grafen. An der Reling stehen, das Schiff legt ab, der Graf tönt aus den Lautsprechern, die Insel wird kleiner, das Meer scheint groß - Gänsehautfaktor. Ist das Freiheit?
Zu Hause angekommen, während sich noch der Schlüssel im Türschloss dreht, steigt ein Gefühl der Beklemmung auf. Ganz schnell, bereits beim Einatmen der seit Wochen angesammelten, abgestanden Luft und beim Anblick des Turms an Post und bedrucktem Papier, sind wir wieder angekommen im Mief des Alltags. Wieder gefangen in Sorgen und Problemen. Wir träumen uns weg zu Meeresrauschen und Salz auf unserer Haut. Das Gefühl von Freiheit macht süchtig. Wir huckeln uns durch den Alltag für den nächsten Fix. Je größer das Auto desto stärker das Freiheitsgefühl. Aus dem Käfer, der Ente oder dem Golf wird ein SUV (Sport Utility Vehicle oder auf deutsch Geländelimousine), aus dem griechischen Inselhüpfen ein Dschungelabenteuer in Südamerika, aus dem all-inklusive-Cluburlaub auf Malle ein all-inklusive-Kreuzfahrttrip durch die Karibik. Wem dient das?

Wahrhaftige Freiheit hat nichts zu tun mit Reisen oder der Größe eines Autos. Wahrhaftige Freiheit ist da, unabhängig von den Gegebenheiten. Freiheit hat etwas mit Frieden zu tun. Wer es geschafft hat Frieden in und mit sich selbst zu schließen, der ist wahrhaftig frei. Jemand kann eingesperrt sein in einem Gefängnis und sich frei fühlen, während sich jemand auf der anderen Seite der Mauer frei wähnt und doch gefangen ist. Wir arbeiten hart für Scheinfreiheiten, die uns zu süchtigen Abhängigen machen. Wir tun wenig für das, was uns wirklich befreien könnte - dem Loslassen von Vorwürfen, von Groll, von Hass, von Enttäuschung, Verzweiflung, Neid, Missachtung, Schuldzuweisung. Jeden Tag wird uns vorgeführt und gelehrt was Freiheit, Glück, Zufriedenheit bedeutet. Das richtige Deo, das uns anziehend macht, das wohlschmeckende Fertiggericht, das uns zugleich zu einer Traumfamilie im Traumhaus verhilft, die richtige Creme, mit der wir nicht altern, der richtige Turnschuh, der uns zu einem Sportass werden lässt. Wir brauchen all das um glücklich zu sein, um attraktiv zu sein, um anders zu sein, um besser zu sein, um zufrieden zu sein. Aber diese Art von Glück hat nichts mit Frieden zu tun und damit auch nichts mit Freiheit. Sie schürt Sucht und bedeutet das Gegenteil.
Wer wahrhaftig frei sein will, sollte nicht huckeln für Scheinfreiheiten, sondern an sich selbst arbeiten. An seiner eigenen Befreiung von allem, was ihn belastet. Am Abtragen der Mauer, die ihn umgibt und gefangen hält. Wir können uns nur selbst aus unseren Gefängnissen befreien. Wir können uns nur selbst in die Freiheit führen.

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Dieser Beitrag ist Bestandteil einer Themensammlung, die Sie auf meiner Website unter "Traumatisierte Familien - Stricke lösen" finden können.

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