Schutzengel

Als Grundschulkind bekam ich die Hausaufgabe ein Bild von meinem Traumberuf zu malen.
In meiner Klasse wusste so ziemlich jeder, was er oder sie einmal werden wollte: Tierärztin, Pilot, Feuerwehrmann, Lehrerin, Polizist, Tänzerin.
Ich bewarb mich bereits als Kindergartenkind für meinen Traumberuf, aber ich erhielt keine Zusage. Jeden Abend betete ich inniglich zu Gott und bat ihn darum mich zu sich zu holen und als einen seiner Schutzengel auszubilden. Daraus wurde nichts.

Ich saß vor meinem leeren Blatt Papier.

Meine Mutter wuchs in Österreich auf und hatte dort noch Verwandtschaft, die wir jedes Jahr besuchten. Sie pflegte ihren österreichischen Akzent und ich übernahm einiges an Vokabular. Ich wuchs in der Großstadt auf und mich faszinierten die Männer, die ohne jede Hektik herumsaßen. Sie schien nichts zu bekümmern und immer hatten sie diese Flaschen mit scheinbar leckerer Flüssigkeit dabei. Jedenfalls tranken sie regelmäßig und genüsslich daraus. Sie strahlten für mich eine Form von Freiheit aus, die die anderen Menschen nicht besaßen. Ihnen gehörte alle Zeit der Welt und Zeit ist ein sehr wertvolles Gut - das wurde mir bereits als Kind bewusst. Sie schienen mir frei und gleichzeitig reich zu sein. Ich wollte Sandler werden. Allein das Wort Sandler gefiel mir schon sehr gut.

Als ich meiner Mutter erzählte, was mein Traumberuf ist und ich mich auf einer Straße in Gesellschaft einer großen Flasche mit roter Flüssigkeit malen wollte, war sie völlig entsetzt: "Das ist doch kein Beruf!", meinte sie. Hmmm - ich verstand diese Erwachsenenwelt nicht.
Ich war eine sehr gute Grundschülerin, aber in diesem Fall riskierte ich eine richtig schlechte Note, weil mir einfach nichts einfallen wollte, was mir wirklich attraktiv erschien und so wollte ich das Blatt leer abgeben. Ich kenne keinen Traumberuf. Punkt.

Schlussendlich malte ich unter Anleitung meiner Mutter den Beruf, den sie sich für mich wünschte: Sekretärin. Was ist eine Sekretärin? Sie malte das Bild mit Worten und ich übertrug es mit Buntstiften auf das Blatt. Da saß eine Frau mit blondgewelltem Haar und rotem Mund hinter einem sehr großen Tisch und tippte auf einer Schreibmaschine. An den Wänden ihres Zimmers waren viele Regale mit vielen Ordnern. Ich betrachtete das Bild. Das werde ich auf gar keinen Fall, beschloss ich für mich.

Letztes Jahr durften wir an unserem letzten Tag im Kloster an einer Zeremonie teilhaben. Magha Puja Day ist ein Feiertag in Thailand und anlässlich dieses Tages wurden wir zu einem entfernten Kloster mitgenommen. Dort erlebten wir die Einweihung eines Chedis und das damit verbundene Fest. Zum abendlichen Chanting unter freiem Himmel und einer Kerzenprozession mit anschließendem Q&A für Laien waren wir wieder zurück.
Den ganzen Tag über fiel mir ein Mönch auf, der unablässig an der Seite des Abtes eines Zweigklosters verweilte. War es seine Sanftmut? Sein Lächeln nach Innen? Seine Zentriertheit? Seine Hingabe? Ich war sehr beeindruckt von der Haltung dieses Mönchs, der keine zentrale Rolle an diesem Tag spielte. Er hielt keine Rede, er tat sich in nichts hervor, was ihm irgendeine Form von Beachtung schenkte. Und doch hatte er meine größte Aufmerksamkeit. Er war einfach da. Und er strahlte eine Form von Liebe aus, die mich überwältigte.
Zuerst dachte ich, dass er zur Gemeinschaft des Abtes gehört und ein enger Vertrauter ist. Später wusste ich, dass er zur Gemeinschaft des Stammklosters gehört und dem Abt zur Seite gestellt wurde. Er versah diesen Dienst mit einer solchen Liebe und Hingabe, dass es mir den Atem verschlug.

Beim Q&A saß ich neben der Mutter des Abtes. Ihr Sohn ist sehr gebildet, sehr gewandt und beantwortete die vielfältigen Fragen der Laien. Seine Mutter war die erste Mönchsmutter, die ich traf und sie nahm mich als Ältere unter ihre Fittiche. Sie ist Thailänderin, stammt aus der königlichen Linie und ich konnte sehen, wie stolz sie auf ihren Sohn ist, der allen weltlichen Dingen, inklusive einem immensen Erbe, entsagte, um das einfache Leben eines Waldmönchs zu führen. Sie deutete lächelnd mit ihren Augen auf den Mönch an der Seite ihres Sohnes, der stumm einfach nur da war, und meinte "His guardian angel". Genau das war er! Ein menschlicher Schutzengel! Und mir wurde klar, dass Gott sie überall braucht. Auch - oder vielleicht vor allem - auf der Erde.

Ich hab mir das noch mal überlegt. Da gibt´s den Nikolaus, das ist der Gute, der zeigt uns den rechten Weg und dann gibt´s den Bösen, den Krampus, kennen wir ja alle, der schlägt und sperrt ein und wenn man nicht aufpasst, nimmt er dich mit. Und dann gibt´s noch das Engerl, das vergisst man ganz leicht, das Engerl, das macht eigentlich gar nichts, es steht einfach nur da, es grinst die ganze Zeit und ich hab mir gedacht, das Engerl ist eigentlich das ärmste Würstchen in der Truppe, aber das stimmt gar nicht, das Engerl ist die wichtigste Figur, weil ohne des würde man die anderen beiden gar nicht ertragen. Verstehst?

Winter zu Ellie Stocker, der er das Leben gerettet hat. Aus der Serie "Der Pass" - Folge "Engerl"


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