Yeah, ich bin schwierig, kompliziert und anstrengend!

Letzte Woche traf ich mich mit einem Freund, der mich für schwierig, kompliziert und anstrengend hält.
Dieses Mal gab es noch ein spezielles Topping.

Dieser Freund und ich kennen uns schon lange. Vor 36 Jahren haben sich unsere Lebenslinien gekreuzt. Beide haben wir nach einem neuen Weg gesucht und vorübergehend bei einem telefonischen Bestellservice gejobbt. Wenn er in das Großraumbüro ging, in dem er arbeitete, musste er an meinem Arbeitsplatz vorbei. Er grüßte nie. Später erfuhr ich, dass er mich ablehnte, weil ich einen auberginefarbenen Frauenkalender (Emanzenkalender hieß er damals) vor mir liegen hatte. Erst ein halbes Jahr später, als ich nach einer 2-monatigen Reise gebräunt und hellblond wieder an meinem Tisch saß, weckte ich sein Interesse.
Wir gingen für einige Jahre einen gemeinsamen Weg in Form einer Ausbildung im Reisebüro. In der Berufsschule saßen wir nebeneinander. Später waren unsere Kinder in ähnlichem Alter und wir trafen uns mit unseren Familien, aber auch immer einzeln.
Als wir jung waren, rebellierten wir gegen die Konditionierungen aus unseren Elternhäusern. Für ihn war es das Schlimmste ein "Spießerdasein" zu führen. Er wollte cool sein, trug Levis-Jeans und Cowboystiefel, dazu Ray-Ban-Sonnenbrille und fuhr ein Käfer-Cabrio. Der lässige Lebensstil war ihm wichtig.
Ich besaß zu dieser Zeit nichts, was nicht in einen Rucksack gepasst hätte. Immer auf dem Sprung sein können, falls mal wieder ein Abenteuer an meine Tür klopft. Das Geld, das ich verdiente, investierte ich in die Miete eines Zimmers mit Kohleofen und Reisen. Ich wollte ganz viel von der Welt sehen und Lebenserfahrungen sammeln. Ich war hungrig nach Leben.

Nun sitzen wir uns gegenüber und sehen die Spuren, die das Leben hinterlassen hat.
Die Verantwortung und Verpflichtungen, die mit Familie einhergehen. Probleme, die den Männern die Haare vom Kopf fressen und den Frauen die Mundwinkel nach unten ziehen.
Und seit einigen Jahren sein Statement "Du bist so schwierig, so kompliziert, so anstrengend". Geworden?
Dieses Mal gab es noch ein i-Tüpfelchen:
Ist schon ein großer Liebesbeweis, dass es dein Mann so lange mit dir ausgehalten hat.
Wie meinst du das?
Naja, die meisten Menschen mögen es doch lieber unkompliziert, einfach und bequem.
Wumm, das haut rein.
War ich doch bereits als Kind schwierig und anstrengend. Wurde mir doch immer wieder klargemacht, dass das Eigenschaften sind, die mich NICHT liebenswert machen.

Erstreaktion: Warum bin ich (noch) mit einem Menschen befreundet, der mein Wesen ablehnt?
Zweitreaktion: Da steckt eine Lehre für mich drin (danke du blöder Arsch von Freund). Grrrr ...
Tröpfelnde Erkenntnis (6 Tage später): Die Menschen reden immer nur über sich selbst. Das, was sie sagen, ist reine Projektion.

Nur was im Innen ist, kann ich im Außen erkennen (wurde mir als eines der kosmischen Gesetze beigebracht - jahahaaa - sehr bitter, wenn man es bei sich, den eigenen Urteilen, Bewertungen, Überzeugungen anwendet)
Was also sieht er?
Seine eigene Kompliziertheit, sein eigenes Schwierig- und AnstrengendSein.

Wir lehnen ab, was wir uns selbst nicht erlauben (ein weiteres kosmisches Gesetz, gipfelt gerne in Bigotterie)
Er lehnt bei mir ab, was er in sich selbst ablehnt, weil er es - aus Gründen, die nur er kennt - nicht leben und lieben darf. Er hat verinnerlicht, dass es die meisten Menschen (Wer? Er selbst?) lieber unkompliziert, einfach und bequem haben.

Was ist mit mir?
Meine Reaktion ist Rechtfertigung und Verteidigung. Seht her, ich bin so wie ich bin, weil ich dazu gemacht wurde. Nun habt mich doch lieb, ich kann doch nichts dafür. Schuld sind die anderen.
Bedeutet:
Ich lehne noch immer einen Teil von mir ab, der schwierig, anstrengend und kompliziert ist (ich bin ja viel mehr als das, lasse mich aber darauf reduzieren). Ich habe diesen Anteil selbst nicht lieb, sonst würde ich nicht so abgehen. All meine Fluchten, all die Reisen, haben mir nicht wirklich dabei geholfen die Konditionierungen aus dem Elternhaus abzulegen. Schwierig, anstrengend, kompliziert ist nicht liebenswert. Punkt. (Kotz!)
Wäre doch schön, wenn ich diesen Anteil irgendwann umarmen könnte mit einem "Herzlich Willkommen!" und auf die Worte "Du bist so schwierig, anstrengend und kompliziert" antworten könnte:
Genau das liebe ich so an mir!
Wenn der Tag gekommen ist, lasse ich euch das wissen. Ganz bestimmt!
Du bist so schwierig, so kompliziert, so anstrengend. Ich freue mich darauf diese Worte wieder und wieder zu hören. Um an meiner Reaktion erkennen zu können, wie sehr ich diesen Anteil inzwischen wertschätze. (Hmmm)

Ach, da war ja noch was. Das i-Tüpfelchen.
Auch hier spricht mein Freund, der es gar nicht mag, wenn man sich nur um sich selbst dreht, wieder von sich. Er sollte die Wertschätzung eines großen Liebesbeweises nicht an meinen Mann herantragen, sondern an seine Frau, die es seit langer Zeit mit ihm aushält.

Ja mein Freund, es tut mir gut nicht mehr vor Anstrengungen, Schwierigkeiten und Komplexität zu fliehen. Bis zum nächsten Mal!


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