Das vierte Gebot

Während meiner zweiten Schwangerschaft brach bei mir Asthma aus. Zuerst als ganz normal auftretende Kurzatmigkeit interpretiert, entwickelte es sich über die Jahre zu einem lebensbegleitenden Umstand, der einhergehend mit Allergien meine Lebensqualität stark einschränkte. Während andere Mütter mit ihren Kindern im Frühjahr die Spielplätze bevölkerten, lag ich unter völliger Verdunklung auf dem Sofa, um meine Panikattacken in den Griff zu bekommen. Oft konnte ich gefühlt nicht weiter als bis zur Speiseröhre atmen und hatte das Gefühl zu ersticken.

Ich inhalierte bereits zu Weihnachten prophylaktisch Cortison, damit ich im Frühjahr in der Lage war aus dem Haus zu gehen. Wenn die Anfälle dennoch zu stark wurden, bekam ich zusätzlich Cortisondepots gespritzt. Ich war Mitte 30 und fühlte mich wie ein Wrack.
Lungenarzt, Hautärztin, wen auch immer ich aufsuchte, alle hatten nur eine Prophezeiung: Asthma ist unheilbar. Finden Sie sich damit ab.
Einzig meine damalige Hausärztin, die nebenher eine Applied Kinesiology Ausbildung machte, gab mir Hoffnung. Sie war die Erste, die fragte, wann und unter welchen Umständen das Asthma ausbrach. Ihre Diagnose: Sie leiden an einem traumatischen Asthma und das ist, meiner Meinung nach, heilbar. Wenn Sie bereit sind, sich einem langen und eventuell schmerzhaften Prozess zu unterziehen, dann können Sie sich davon befreien. Ich war bereit. Und sehe mich als geheilt. Kein Inhalator mehr als ständiger Begleiter in meiner Tasche, keinerlei Medikamente mehr, minimale Pollenallergie, ich kann ganz tief durchatmen und tu das auch so oft ich kann.

Eine Hausaufgabe während der Anfänge meines Heilungsprozesses bestand darin, dass ich jeden Tag ein Dankesgebet für meine Eltern beten sollte. Ui, hat sich da was in mir gesträubt! Die Dankesrede kam mir nur schwer und äußerst widerwillig über die Lippen. Hat es doch damals so ausgesehen, als ob meine Eltern so ziemlich alles falsch gemacht haben. Ich war voller Vorwürfe. Und dachte selbstverständlich, dass ich als Mutter alles viel viel besser mache. Ohne zu merken, dass ich mit genau dieser Einstellung ins familiäre Muster rutsche. Weil ich versucht war meinen Kindern das (im Übermaß) zu geben, was ich mir gewünscht hätte. Mit einer Selbstgerechtigkeit, die wenig Aufmerksamkeit für die tatsächlichen Bedürfnisse dieser mir anvertrauten Wesen zuließ. Ich kann heute nur hoffen, dass meine Kinder ein milderes Urteil über mich abgeben, als ich es viele Jahre über meine Eltern gefällt habe.
Meine Eltern haben mir das gegeben, was sie mir geben konnten. Zu mehr waren sie nicht fähig. Keinen von beiden trifft eine Schuld. Sie litten unter Unfähigkeit. So wie ich auch. Ich habe viele Fähigkeiten, sehe aber heute durchaus auch meine Unfähigkeiten. Ich habe mich bemüht und das gegeben, was ich geben konnte.

Zeit meines Lebens habe ich die Fühler ausgestreckt nach einer weisen, älteren Frau. Nach einer (anderen) Mutter. Bis heute habe ich sie nicht gefunden. Vielleicht sollte ich sie nicht finden, denn ich habe ja eine Mutter. Und diese Mutter hat mich viel gelehrt.
In einem Buch las ich mal, dass Kinder kein Recht darauf haben beschützt zu werden. Sie unterliegen Schutz, wenn sie geliebt werden. Wer will Eltern dazu zwingen ihre Kinder zu lieben? Ich liebe meine Mutter, aber diese Liebe geht nicht so weit, dass ich mich wieder ihrer Herrschaft unterordnen würde. Diese Liebe macht nicht alles gut zwischen uns. Das wäre eine große, gefährliche Illusion, die wieder nur in Schmerz enden würde. In Selbstdestruktion.

Die Schriftstellerin Helga Schubert könnte meine Mutter sein. Sie ist 80 Jahre alt und schrieb einen Text über ihr Mutterverhältnis. Wie sich die Gefühle doch alterslos ähneln. Auch sie fand keine neue Mutter. Auch sie beschäftigt sich mit dem Erbe einer Mutter, die alles verloren hat. Ich bin nicht alleine. Da gibt es eine ältere, weise Frau, die sich wie ich nach innerem Frieden sehnt. Das gibt mir ein gutes Gefühl.

Was ist so schwer mit dem Vierten Gebot? Was ist los mit Ihnen und Ihren Eltern? fragte die Kurpastorin  mich  dort, eine junge knabenhafte  Frau, am langen Tisch mir gegenüber, Deckenbeleuchtung, außer ihr und mir niemand im großen Kirchgemeindesaal der Nordseeinsel. Sie lächelte nicht ein bisschen. Es geht nur um meine Mutter. Du sollst deinen Vater und deine Mutter lieben, auf dass es dir wohl gehe. Das ist doch das Vierte Gebot. Irrtum, sagte die Pastorin. Von Liebe ist im Gebot nicht die Rede. Gott verlangt von uns nicht, dass wir unsere Eltern lieben. Wir brauchen sie nur zu ehren. Sie haben sich ganz umsonst bekümmert, sagte sie. Sie können nicht gezwungen werden, Ihre Mutter zu lieben. Ihre Mutter kann aber auch nicht gezwungen werden, Sie zu lieben. Sehen Sie, Ihre Mutter hat sich doch erfolgreich eine Tochter gesucht. Suchen Sie sich doch eine Mutter. Falls Sie eine brauchen. Sie lächelte mir aufmunternd zu, wie einer Studentin. 
Aus "Vom Aufstehen" von Helga Schubert - Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin 2020
 
 
 Dieser Beitrag ist Bestandteil einer Themensammlung, die Sie auf meiner Website unter "Traumatisierte Familien - Stricke lösen, Raus aus dem Labyrinth" finden können.

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