Brief an eine Schriftstellerin

Liebste Frau Schubert,

mein Name ist Ingrid R., ich bin Jahrgang 1963 und habe eine Mutter Jahrgang 1939. Sie ist, wie Sie, (noch) 80 Jahre alt. Wie Sie musste meine Mutter aus ihrer Heimat fliehen. Sie wurde in Krumau, heutiges Český Krumlov/Tschechien und Weltkulturerbe, geboren.

Und doch gibt es große Unterschiede zwischen ihnen beiden. Sie hatten eine Mutter, an der Sie sich orientieren konnten. Meine Großmutter hat Selbstmord begangen. Sie hat das gemacht, was Ihre Mutter verweigert hat. Sie hat sich vergiftet. Ihre beiden Kinder, meine Mutter und den Sohn, hat sie zu ihrer Schwester geschickt. Ihren Vater hat meine Mutter nicht kennengelernt. Er verstarb bei einem Marsch, als sie noch im Bauch ihrer Mutter war. Sie war noch keine 5 Jahre alt und, im wahrsten Sinne des Wortes, bereits mutterseelenallein. Mit der Großmutter sind sie nach Österreich geflohen. Nachdem meine Urgroßmutter keine Lebensmittelmarken mehr erhielt, musste sie die beiden Enkelkinder zur Adoption freigeben. So verlor meine Mutter auch noch das, was ihr nach Eltern- und Heimatverlust, geblieben war: Bruder und Großmutter.

Meine Mutter erzählte nie viel aus dieser Zeit. Wahrscheinlich konnte sie nur überleben, indem sie verdrängte, denn ihr weiteres Leben war auch kein Zuckerschlecken. Es war geprägt von Missbrauch. Sie hatte keine realen Menschen, an denen sie sich orientieren konnte. Sie hatte Ideale. Meine Mutterbeziehung ist, wie Ihre, eine angespannte. Ich liebe meine Mutter. Aber es geht mir ohne sie besser als mit ihr. Was auch immer ich tu, es ist nie genug. Meine Mutter ist ein Fass ohne Boden. Irgendwann wurde mir klar, dass sie auf der Suche nach Mutter und Vater ist. Diese Personen sind aber durch niemanden ersetzbar. Kein Mensch auf der Welt kann die kindlichen Bedürfnisse eines Erwachsenen befriedigen. Dieses schwarze Loch, wenn die Eltern fehlten, kann keiner füllen.

Und so mache ich das, was Sie machen. Friedensarbeit. Ich bin keine Schriftstellerin wie Sie. Ihr Artikel „Vo(r)m Aufstehen“ hat mir sehr gefallen. Ich schreibe ein Blog, ein elektronisches Tagebuch. Das Schreiben hilft mir mich selbst zu fassen, da ich mich als einen immens desorientierten Menschen sehe. Mir hat meine Großmutter genauso gefehlt wie meiner Mutter. Ich habe einfach keine Ahnung wie das Leben geht, wurde aber mit einem hyperaktiven, analytischen Geist ausgestattet, der verstehen will. Ein großes Thema unserer Gesellschaft sind Kinder, die den Kontakt zu ihren Eltern abbrechen (man kann sie trotzdem ehren). Diese Kinder sind in Ihrem Alter und in meinem, aber auch in dem meiner Kinder. Es setzt sich fort. Der Grund ist Sprachlosigkeit, Unfähigkeit oder Unwillen zur Reflexion, Traumata, die weitergegeben werden, körperlicher und/oder emotionaler Missbrauch, der verleugnet, verdrängt wird. Beiträge zum Thema sammle ich auf einer Homepage. Ich mache das alles für mich, ich beschreibe meinen Prozess, vollführe Seelenstriptease um mich zu erleichtern. Ich hatte große Angst das alles zu veröffentlichen, bekomme aber viel dankbares Feedback, das mich erkennen lässt, dass die Worte einer Desorientierten anderen zur Orientierung verhelfen. Was für ein Paradoxon!

Es hat mir sehr gut getan zu lesen, wie Sie mit Ihren Erinnerungen umgehen. Ihre Beschreibung fühlt sich so warm und herzlich an. Ich wünsche mir, dass auch ich eines Tages an diesen Punkt komme und sagen kann „Alles gut“. Ich danke Ihnen von ganzem Herzen für Ihren Text und gratuliere Ihnen zum Ingeborg-Bachmann-Preis.



Dieser Beitrag ist Bestandteil des Themas
"Traumatisierte Familien / Kontaktabbruch - Verlassene Eltern und Kinder", den Sie auf meiner Homepage finden. 

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