Die große Traurigkeit

Seit vielen Jahren habe ich immer wieder eine Besucherin. Ich nenne sie: Die große Traurigkeit.
Bereits als Kind überfiel sie mich. Wenn sie kommt, fordert sie meine ganze Aufmerksamkeit. Das erreicht sie, indem sie ihre Begleiterin, die große Schwäche, wie eine Wolke auf mich niedersinken lässt. Alle Pläne sind dann dahin. Ich liege und weine und schlafe. Mehr geht nicht. Die große Traurigkeit lässt nichts anderes zu.
Lange Zeit habe ich versucht mich gegen sie zu wehren. Wollte die Tür nicht aufmachen, wenn sie davor stand. Aber sie kann durch verschlossene Türen gehen. Sie erreicht mich, wenn sie will. Sie durchdringt alles.
Irgendwann habe ich aufgehört sie ignorieren oder abweisen zu wollen. Sie kommt sowieso wann sie will. Ich habe auch aufgehört nach Gründen für sie zu suchen, irgendjemanden zu finden, dem ich unterstellen kann, dass er oder sie mich so traurig macht. Sie ist einfach da. Und ich akzeptiere sie inzwischen wie so einige andere ungebetenen Gäste auch.
Die große Traurigkeit hat eine Gestalt. Sie ist eine uralte Frau in Lumpen. Keiner will sie haben. Die Leute sagen: Geh weg, du stinkst! Seitdem ich ihre Gestalt kenne, kann ich mit ihr fühlen. Sie ist einsam, ungeliebt, hungrig. Ich gebe ihr zu essen, lasse ihr ein Bad ein, leiste ihr Gesellschaft und halte gewaschene Kleidung für sie parat. Einen ganzen Tag lasse ich sie bei mir sein und schenke ihr meine Beachtung. Am nächsten Tag geht sie wieder und wirkt ziemlich zufrieden. Sie sammelt Tränen und versteckt diese in kleinen Flaschen unter ihrem Gewand. Ich mache ihr meine Tränen zum Geschenk und sie bewahrt sie wie einen Schatz. Ein Hauch ihres Besuchs hängt bis mittags in meinen Kammern. Die große Schwäche entlässt mich aus ihrem Klammergriff und folgt der Herrin.
Ich kann mich wieder der Schönheit widmen.


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