Überfluss

Die ältere, weise Frau, nach der ich mich ein Leben lang sehnte, traf ich in meinen Mittvierzigern.

Ich lernte sie nie persönlich kennen - sie erreichte mich mit ihrem geschriebenen Wort. Ich hatte es damals so leid mich als Opfer zu fühlen und war auf der Suche nach Selbstermächtigung. Sie kam zum richtigen Zeitpunkt in mein Leben. Ich war offen für ihre Arbeit, die manchem als gnadenlos oder schonungslos vorkommen kann. Für mich war es genau richtig, ich war auf der Suche nach Wahrhaftigkeit.

In einem Gespräch mit meinem Sohn, dem Theravada-Mönch, stellten wir fest, dass ihre Arbeit der buddhistischen Auffassung von Leid gleicht. Nicht das, was uns widerfährt, lässt uns leiden, sondern das, was und wie wir darüber denken. Es ist immer unsere eigene Re-Aktion, die unser Befinden ausmacht.

Sie sagt

Keiner kann mich angreifen.
Verteidigung ist der erste Akt des Krieges.

Ich habe gebraucht bis ich das verstanden oder besser - verinnerlicht habe. Jemand kann mich nur angreifen, wenn ich das, was er sagt oder tut, als Angriff empfinde. Sobald ich mich dann verteidige und rechtfertige, trenne ich mich von mir selbst und gehe in den Unfrieden. Mein Verstand sucht nach Beweisen, dass ich im Recht und der andere im Unrecht ist. Unser Verstand ist ein Meister in Beweisfindung. Meistens sucht man sich dann noch Verbündete, die einen bestätigen und bestärken. Man kann eine regelrechte Phalanx aufbauen. Oder ein Heer. Der Krieg ist in vollem Gange. Er wird im Innen und im Außen geführt.
Re-Aktion ist selten ein Pfad in den Frieden, sondern meistens einer hinaus.
Das merken wir, wenn wir morgens meditiert und Yoga gemacht haben, uns völlig eins mit uns selbst und zentriert fühlen, dann nimmt uns jemand die Vorfahrt und fühlt sich auch noch im Recht oder drängelt sich an der Kasse nach vorne oder ... trägt keine Maske. Es begegnet uns einer, der sich nicht an die Regeln hält. Dann ist es mit unserer Zentriertheit ganz schnell vorbei. Wir ärgern uns, werden vielleicht sogar wütend und suchen uns jemanden, der so denkt wie wir, der sich auch an die Regeln hält und die verurteilt, die es nicht tun. Wir bestätigen uns in unserer Rücksichtnahme, indem wir den anderen Rücksichtslosigkeit vorwerfen. Wir fühlen uns altruistisch, weil die anderen so egoistisch sind. Wir blicken durch und die anderen haben keine Ahnung. Wir sind eindeutig die besseren Menschen.

Und genau hier setzt ihre Arbeit an.
Letztendlich lässt sie uns erkennen, dass das, was wir im Außen sehen, in unserem Inneren ist. Dass nicht die anderen sich verändern müssen, damit es uns gut geht - nein - das dürfen wir selbst tun. Indem wir uns vom Image lösen. Von dem, was wir von den anderen haben, genau so wie von dem, was wir vor uns selbst hertragen. Erkennen wir Rücksichtslosigkeit, bedeutet das, dass wir sie in uns selbst haben. Wenn wir unsere eigene Rücksichtslosigkeit nicht erkennen und  bereit sind uns von ihr zu trennen, wie können wir dann erwarten, dass es der andere tut? Wenn wir negative Eigenschaften, die wir in uns tragen, leugnen, wie können wir vom anderen erwarten, dass er sie zugibt?

Ihr Weg ist ein schmerzhafter, aber auch ein befreiender, weil er uns zeigt, dass all das Übel, das wir da draußen zu erkennen glauben, eine Projektion unseres Inneren ins Außen ist. Wir werfen unseren Film auf die Leinwand und denken, dass die anderen die Bösewichte sind. Dabei schauen wir immer nur unseren eigenen Film an. So wie die anderen auch. Wir alle befinden uns in unserem eigenen Heimkino, denken aber, dass unser Film für alle läuft. Es gibt keinen Film, der für alle läuft. Es gibt nur Eigenkreationen. Es gibt auch keine eine Realität. Es gibt mannigfaltige Sichtweisen und eine jede sucht nach Bestätigung, dass sie allgemeingültig ist.

Zwei Menschen haben noch nie denselben Film geschaut.
Zwei Menschen sind sich noch nie wirklich begegnet.
Zwei Menschen können immer nur sich selbst im anderen erkennen.
Zwei Menschen können aber über ihre Filme reden.

Würde mich jemand fragen, welche Bücher ich auf eine einsame Insel mitnehmen würde (ist noch nie passiert ;-)), ich würde ihre nennen. Weil ich noch lange nicht in diesem friedfertigen Zustand bin, den sie ausstrahlt. Weil ich auf der einsamen Insel alle Zeit der Welt hätte, um zu üben. Nur leider würde dieser eine Mensch fehlen, der mir zu erkennen gibt, auf welchem Level ich mich befinde. Ich müsste mich dann selbst aus der Fassung bringen. Sehr wahrscheinlich würde ich all die Regelbrecher vermissen, die bisher diese Arbeit für mich gemacht haben.

In meinem Erwachsenenleben war immer was los. Es gab aber Jahre, in denen ich mich nahezu erschöpfte. So ein Jahr war 2019 und ich hoffte auf ein ruhiges, erholsames 2020. Tja, was soll ich sagen. Schon mal was von Corona gehört?
In ihrem Buch "Wer wäre ich ohne mein Drama?" (das ich wärmstens empfehlen kann), sagt Byron Katie

Wenn das Leben so voll ist, dass du einfach nicht noch mehr bewältigen kannst? Hier kommt´s! Das ist Überfluss.

Ich muss lachen. Ich lebe im Überfluss. Alles ist eine Sache der Perspektive.
Mein Leben ist so reich an Herausforderungen, Erfahrungen, Abenteuern, Veränderungen. Es ist genug da. Manchmal mehr als genug. Überfluss halt.

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