Was wenn es die richtige Frau oder den richtigen Mann gar nicht gibt?

Es gibt Workshops, die da heißen "Man for a day".
Frauen in Männerkleidung üben sich in männlichen Verhaltensweisen. Das kann man auch als Mann machen und das Ganze findet man unter dem Begriff "Crossdressing".
Die Zeitschrift Chrismon veröffentlicht in ihrer Augustausgabe die Selbsterfahrung einer Journalistin mit dem Titel "Mann, tut das gut".
Frauen wollen mehr Verhaltensmöglichkeiten. Das ist die Hauptmotivation für den Besuch eines solchen Workshops.
Zur Vorbereitung sollen Frauen Männern folgen und sie beobachten, sagt Kursleiterin Diane Torr. Und das ist kein Problem. Männer merken das nicht, sie fühlen sich unbeobachtet.
Eine der Teilnehmerinnen fühlt sich ständig beobachtet. Und bewertet. Sie hat die öffentlichen Männerkommentare (Du bist aber eine süße Maus) satt und möchte endlich mal ungestört durch die Stadt gehen. Eine andere Kursteilnehmerin wandelt sich von der unsicheren Frau zum männlichen Arschloch und genießt es. Dinge, die "richtige" Männer keinesfalls tun sind: ständig lächeln, immer nett sein, auf der Stuhlkante sitzen, sich schmal machen, die Stimme am Satzende heben, so dass der Satz wie eine Frage klingt.
Miriam, das männliche Arschloch sagt:
Als Frau bin ich immer nett, immer auf andere bezogen, immer "Wie geht es dir?". Als Arschloch ist mir das egal.
Als ich den Artikel mit den Aufgaben, die den Frauen gestellt wurden, durchgelesen hatte, wurde mir klar, dass ich die letzten Jahre nichts anderes gemacht habe als zwei- bis dreimal die Woche "Man for 90 minutes" zu trainieren. Ich übte meinen Platz einzunehmen, mit einem festen Schritt, einer sicheren Körpersprache und einer klaren Absicht.
Mit Anfang 40 verliebte ich mich noch einmal leidenschaftlich. In den Uechi-Ryu-Karate-Do. Das ist kein Mann mit einem exotischen Namen, sondern ein Kampfkunststil.
Ein argentinischer Lehrer erklärte uns auf einem Seminar, wie Männer und Frauen aufgrund ihrer Körpersprache unterschiedlich praktizieren.
Seid ihr in einem Flugzeug schon einmal auf dem Mittelsitz zwischen zwei "richtigen" Männern gesessen? Und habt ihr miterlebt, wie ihre Beine aufklappen, wenn sie einschlafen? Wenn sie nicht vorher bereits breitbeinigst dagesessen sind, die Arme mit der größten Selbstverständlichkeit auf beiden Armlehnen. Und was macht Frau? Wir machen uns klein und schmal, versuchen möglichst jeglichen Körperkontakt zu vermeiden. Es würde uns nie einfallen um die Armlehnen zu "kämpfen", geschweige denn uns so breitbeinig hinzusetzen, dass die Männer sich schmal machen müssen. Warum?
Weil "richtige" Männer ihr Geschlecht präsentieren, während wir Frauen versuchen es zu schützen, indem wir die Beine übereinander schlagen. Wir sind es nicht gewohnt Raum einnehmen zu dürfen. Wir pinkeln nicht im Stehen an Bäume oder in freie Landschaften um unser Territorium zu markieren. Wir ducken uns.
So wie die Teilnehmerinnen des Workshops, ausgestattet mit männlichen Merkmalen, den Mann inszenierten, den sie für sich ausgedacht haben, so bin ich mit dem Anziehen meines Gis in eine Rolle geschlüpft. Auf der Matte musste ich nicht mehr lächeln oder nett sein. Es galt das "Budo-Smile" - heruntergezogene Mundwinkel. Auf der Matte durfte ich endlich mal meine Gesichtszüge fallen lassen und meine "Kampfsau" bekam Ausgang. Genehmigten Ausgang. Im Gi stand ich plötzlich breitbeinig da und fühlte mich wunderbar geerdet. Die Bewegungen einer "richtigen" Frau sind langsam. Damit vermeidet sie es bedrohlich zu wirken. Auf der Matte durfte ich schnelle, explosive Bewegungen trainieren. "Richtige" Frauen tragen hohe Schuhe. Das lässt die Beine länger wirken, macht ein knackiges Gesäß und hilflos. Diese verlängerten Beine auf hohen Absätzen können weder weglaufen noch zutreten. Ich liebte es zu treten, reintreten zu dürfen. Ich liebte es all diese Dinge zu tun, die ich nie tun durfte. All diese Dinge, die meinem "Geschlecht" widersprachen. All diese Dinge, die  keinesfalls dieser ewigen Inszenierung der Weiblichkeit dienten. Ich durfte zwei- bis dreimal die Woche "Mann" spielen.
Aber irgendwann fehlte etwas. Bei all dem Mannspielen wurde mir mehr und mehr klar, dass das nicht alles ist. Diese Inszenierung des "männlichen Kampfes" wurde irgendwann genau so öde wie die Inszenierung der stilisierten Weiblichkeit. Es fühlte sich genau so unfrei an.
Fazit einer der Workshopteilnehmerinnen von "Man for a day", was ihr "Mannsein" betrifft und die Kehrseite von männlicher "Präsenz", die sich darin zeigt, dass einem die Leute Platz machen und ausweichen:
Ich hatte naiv erwartet, ich würde mich frei fühlen, stattdessen fühlte ich mich eher depressiv. Natürlich, nach außen gab ich vor: Ich hab alles im Griff, mein Easy Rider steht draußen vor der Tür, meine Freundin wartet auf mich. Aber ich war wie gefangen in mir selbst. Wie in einem Kokon. Nicht lächeln, nicht zwinkern, das fehlte mir. Mein ganzer Körper war so verschlossen.
Die Frauen fühlten sich begrenzt. Männer haben laut Professor Hirschauer, Geschlechtersoziologe, im Schnitt noch immer ein höheres Einkommen, vermutlich noch immer mehr Entscheidungsfreiheiten, aber weniger emotionale Freiheiten als Frauen:
Die Regeln für Männer sind doch genau so dumm und begrenzend wie die für Frauen.
Lautet ein anderes Fazit. Das Konzept der getrennten Geschlechterrollen ist ärmlich.
Frauen dürfen Frauensachen machen und noch dazu die Männersachen, die sie sich angeeignet haben. Männer dürfen nur Männersachen machen.
Sagt Stephanie Weber, Sozial- und Geschlechterpädagogin, die mit männlichen Studenten den Versuch wagte "Frauensachen" zu machen. Als diese in der Bahn Menschen anlächelten, nicht flirtend, sondern freundlich, kam folgender Kommentar "Wenn du nicht sofort aufhörst, kriegst du eins in die Fresse".
Frau Weber war als Mann unterwegs und machte folgende einsame Erfahrung:
Die Männer guckten nur kurz, damit sie nicht als schwul gelten. Und die Frauen guckten nur kurz, damit ihr Blick nicht etwa Interesse signalisiert.
Warum haben wir diese Bilder davon, was einen "richtigen" Mann oder eine "richtige" Frau ausmacht? Haben wir nicht alle diesen männlichen und weiblichen Anteil in uns? Wenn das so ist, warum dürfen wir ihn nicht leben? Wozu haben wir es? Warum haben Frauen Spaß daran "männliche" Dinge auszuprobieren und bei Männern ist es "verpönt" Frauensachen zu tun? Hat "Männlichkeit" einen höheren Stellenwert? Warum wird Emotionalität nicht gefeiert? Warum ist "hart" so erstrebenswert und nicht "weich"? Gibt es noch immer Verbote?
Ich habe meinen Gi abgelegt und damit die Rolle. Das Mannseinspiel macht keinen Spaß mehr, weil von mir nun erwartet wird, dass ich breitbeinig dastehe, dass ich meinen Mann stehe. Jetzt, wo ich es gelernt habe, sehe ich aber keine Notwendigkeit mehr dazu. Oft wurde die Vermutung geäußert, dass ich das alles nur mache, weil ich mich von Männern bedroht fühle. Das stimmt aber nicht. Um ehrlich zu sein - ich habe mich in meinem Leben eher von großen Frauen eingeschüchtert als von Männern bedroht gefühlt. Ich habe als Kind schon gerne gerauft und meine körperliche Stärke an meinen Brüdern gemessen. Raufen hat Energien in mir frei gesetzt. 35 Jahre später habe ich das wieder für mich entdeckt. Als Kind konnte ich mich ganz gut gegen diese Bilder von dem, was "Mädchen" und was "Jungen" machen zur Wehr setzen. Als Kind war ich manchmal rotzig und unfreundlich. Mit dem Wachsen meiner Brüste wuchs auch etwas anderes. Die Frage "Was macht mich begehrenswert und was nicht?" Glücklicherweise trete ich nun in eine Lebensphase, in der die Dringlichkeit der Antwortfindung wieder rückläufig ist. Ich darf nun breitbeinig dastehen, aber auch die Beine übereinander schlagen. Ich darf nett und zugewandt sein, aber wenn ich das mal nicht sein will, darf ich auch rotzig und unfreundlich sein.
Die Sängerin Sinéad O'Connor ließ sich 2013 die Initialen des "letzten Mannes, der sie jemals wie Dreck behandelte" auf ihre Wangen tätowieren. Auf die Frage, warum sie das gemacht hat, antwortete sie unter anderem "Ich wollte mich enthübschen. Hübsch sein ist gefährlich". Da gibt es Frauen, die nichts anderes als hübsch sein wollen und eine, die es ist, rasiert sich eine Glatze und verunstaltet ihr Gesicht, weil sie es als gefährlich einstuft. In was für einer Welt leben wir? Welchem Bild jagen wir nach? Und wer gibt dieses Bild vor?
Was, wenn es dieses "richtig" gar nicht gibt? Wenn wir etwas nachjagen, das so nicht exisitiert? Wenn es weder "richtige" Frauen noch "richtige" Männer gibt?
Was wären wir ohne diese Bilder?
Wer wären wir ohne diese Bilder?
Was, wenn es diesen "geschlechtlichen Ausweiszwang" nicht mehr gäbe?

Mehr Infos zum Thema über Frauen und Männer, die ins andere Geschlecht schlüpfen hier.

Beliebte Posts

Brief einer Mutter an ihren Sohn

Brief einer Tochter an ihre Mutter

Kontaktabbruch - Verlassene Eltern

Töchter narzisstischer Mütter

Kriegsenkel - Die Erben der vergessenen Generation

Du sollst dein Kind ehren

Esoterik I: Robert Betz - Der Mann fürs gewisse Zeitalter

Band ums Herz