Leserbrief einer verlassen(d)en Tochter II

Im Januar erreichte mich dieser Brief einer Tochter. Auch er bezog sich auf meinen Blogbeitrag "Am Sterbebett meiner Mutter". Eine Sache, die von Kindern immer wieder verlangt wird, wenn es um das schwierige Verhältnis zu ihren Eltern geht, ist Vergebung. Auch wenn ich dieses Jahr einen Blogbeitrag über meine Vergebung geschrieben habe, möchte ich allen Verlassen(d)en Kindern sagen: Es war ein langer Weg. Vergebung muss nicht das Ziel sein. Zuallererst ist es wichtig sich selbst zu verzeihen. Die Tatsache, dass man sich selbst nicht vertraut hat. Dass man viele Jahre oft auf die gutgemeinten Ratschläge anderer gehört hat, die einen meistens nur noch schlechter fühlen ließen. Dass man lange Zeit die Fehler bei sich selbst gesucht hat. Dass man sich bis zum Umfallen, bis zur Selbstaufgabe, bis zu einer Krankheit, einer Depression, einem Zusammenbruch erschöpft hat. Dass man für alle anderen da war, nur nicht für sich selbst. Dass man so viel Lebenszeit verschwendet hat um etwas zu bewerkstelligen, was einem nie gelingen sollte: heil machen. Es braucht, bis man akzeptieren kann, was wirklich ist. Lasst euch Zeit - behütet euch - geht den Weg, der gegangen werden muss. Haltet den Fokus auf euch selbst - findet die Heimat in euch - führt eure verletzten Kinder nach Hause. Werdet stark - vertraut euch - weint und lacht.

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Ich bedanke mich sehr herzlich für das Vertrauen und den Mut meiner Leserin für die Freigabe zur Veröffentlichung ihres Briefes in meinem Blog und auf meiner Website.

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Liebe Frau Riemann,

ich habe Sie in 2018 entdeckt, als Ihr Blog in einem Artikel in Brigitte Woman genannt wurde. Ich hatte ihn in der Badewanne gelesen. Ich blieb Stunden, um in Ruhe Ihre Seite zu erkunden. Tränen des Glücks liefen über mein Gesicht! Ich war nicht verrückt! Ich war nicht alleine!
Endlich waren da andere Menschen, die das auch erlebt hatten! Ihre Empfehlung „Will I ever be good enough?“ habe ich verschlungen. Ich hatte schon lange den Kontakt zu meiner narzisstischen Mutter auf ein Minimum reduziert (ich sagte ihr z.B erst im 8. Monat, dass ich schwanger war. Das ist 16 Jahre her. Ich habe mir therapeutische Hilfe geholt, weil ich den Teufelskreis durchbrechen wollte. Es hilft, dass sie in den USA lebt und ich den Umgang dadurch minimieren konnte.)

Ich war auf dem Weg.

Dazu kam, dass ich 2008 als Fußgängerin von einer Straßenbahn angefahren wurde und wirklich alles in Frage stellte. Ich wollte mich vom Leben erlösen, da ich mich selbst als unwert empfand, jetzt wo ich mit chronischen Schmerzen (bis heute), Depressionen und Krankheit keine Hilfe für andere war und keine Daseinsberechtigung nach dem Wertesystem meiner Mutter hatte. Meine Mutter meinte, dass mir doch Duftkerzen oder eine Tageslichtlampe helfen könnten. Aber eigentlich hält sie mich für ein undankbares Balk. Es gibt soviel Geschichten und Verletzungen...

Dann kam auch der Druck dazu. Warum ich nicht endlich Frieden geben konnte, es ist doch alles lange her. Projektionen von mir und alles Einbildung. Das übliche. Dieser Vergebensdruck hat mich fast das Leben gekostet. Als mein Opa (Vater meiner Mutter) starb, sagte sie mir noch beim Trauerempfang, dass sie jetzt ja gar keinen Grund mehr hätte, nach Dtl. zu kommen. Das hat mich bestärkt, mit ihrer Halbschwester, meiner Tante wieder mehr Kontakt zu haben. Sie ist in meinem Alter (jetzt 50 J). Wir haben uns viel erzählt und um einiges getrauert und erfreuen uns an unserer Beziehung.

2016 kam durch reinen Zufall eine Brustkrebserkrankung zu Tage. Aber was ist schon Brustkrebs gegen damals 8 Jahre Gesichtsschmerzen! Mit Schmerzen ist man immer die Idiotin, die sich dämlich anstellt, mit Brustkrebs gibt es Hilfe. Der erste Gedanke damals war: „Jetzt muss ich das nicht selber tun. Das macht der Krebs für mich“. (das Töten).

In der Chemo stand ich vor dem Ende meiner Existenz. Ich habe abends oft gedacht, dass ich den Morgen nicht erleben werde. Das brachte mir unerwartete Perspektiven. Heute gibt es immer wieder Situationen, in denen ich sage, diese Erkenntnis hat mir der Krebs geschenkt.

Letztes Jahr nun erfuhr ich von meiner Schwester (13 Jahre jünger, gerade 2. Kind entbunden, lebt in der selben Stadt wie meine Mutter in den USA) dass meine Mutter krank ist. Meine Schwester schickte mir eine Art Abschiedsemail, die meine Mutter an ihr Publikum schickte (ich gehörte nicht dazu) in der sie schrieb, dass sie Hautkrebs Stadium 4 hat und innerlich verbrennt etc.
Das hat mich umgehauen. Ich riet meiner Schwester zwar zur Besonnenheit und dass man abwarten müsste, was die Ärzte sagen. Ich selbst taumelte aber tagelang durch ein Gefühlschaos, aus dem mir 2 weise Frauen (Psychiater und Internistin) raus halfen.

Ich fühlte die Last, dass ich mich nicht dem familiären Druck gewachsen sehen würde und doch hingedackelt wäre, um mir die letzte Demütigung abzuholen. Zudem hatte ich die ganze Zeit ein Gefühl von Verarsche. Ich habe mich sehr geschämt, dass ich das meiner Mutter zutraute.
Es stellte sich dann ein paar Tage später heraus, dass der Hautkrebs prima zu entfernen war und sie nur „was falsch verstanden“ hatte. Das gab mir den Rest. Aber es hat mir auch aufgezeigt, worauf ich mich einstellen muss. In dieser Zeit habe ich Abschied genommen, getrauert und die letzte Hoffnung auf ein Verstehen, vielleicht auch entschuldigen (wie mein Vater es vor Jahren tat) begraben und beweint.

Letztes Jahr bin ich mit meinem Sohn und Mann zu meiner Schwester in den Urlaub gefahren. Natürlich hat meine Mutter wieder keine meiner Grenzen respektiert. Aber ich konnte es wie eine weise Frau mit einem Lächeln wegwischen. Ich war meiner Schwester zu Liebe auch im Haus meiner Mutter. Da noch mehr Familie da war, hatte ich immer jmd. der sich als Schutzschild anbot. Hauptsache sie kann ein Bild auf Facebook posten. Sie braucht keine Familie, sie sucht Publikum. Ich sah, wie schlecht sie meine kleine Schwester behandelte und wie ihr die Hand bei ihrer Enkeltochter „ausrutschte“. Als ich wieder im Auto saß, war ich froh. Hier müsste ich nie mehr her. Sie ist eine arme Irre und will keine Hilfe. Das hat nichts mit mir zu tun. Wenn sie nicht meine Mutter wäre, würde ich sie nicht kennen oder wenn doch, meiden!

Ich bin weiter auf dem Weg mich kennen zu lernen. Gerade in schweren Zeiten, wenn Schmerzen und Stress mich überwältigen, falle ich in alte Muster zurück. Aber ich komme immer besser klar und habe meinen Anker im Leben. Ich habe Herzensmenschen um mich rum und bin auch gerne und viel alleine. Für meinen Mann ist diese Nachreifung nicht einfach, aber was soll’s! Für mich ist es lebenswichtig! Ich wachse immer mehr in mich rein, daher finde ich das Altern toll, auch wenn da noch mehr körperlicher Verfall auf mich zukommt. Ein glückliches Hirn, auch wenn der Körper gebrochen ist. Das gönne ich mir, so oft es geht.

Ich wünsche Ihnen von ganzem Herzen den Mut und die Kraft, weiter an Ihrem Weg zu arbeiten, auch wenn es bedeuten sollte, dass Sie Ihre Mutter am Sterbebett vielleicht nicht besuchen!
Danke für Ihre wunderbare Arbeit.

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