Paradiese

Unsere Tochter absolvierte im Sommer ein dreiwöchiges Praktikum an einer Schule in Dänemark. Die Dänen sind, laut dem World Happiness Report 2013, die glücklichsten Menschen. Auf die Frage, was sie mitgenommen hätte, meinte unsere Tochter "Dass man alles, wirklich alles, auch viiiiieeeeel entspannter angehen kann".

Die Dänen praktizieren einen Grundschulunterricht, von dem bei uns behauptet wird, er würde nicht funktionieren.
Die Schüler duzen ihre Lehrer und melden sich morgens per sms vom Unterricht ab, wenn sie krank sind. Das klappt, weil die Schüler dort GERNE in die Schule gehen. Etwas, was bei uns wahrscheinlich auch als Utopie gilt. Es gibt keinen Frontalunterricht, nicht einmal eine bestimmte Ausrichtung im Klassenzimmer. Alles ist flexibel. Und wenn das Thema "Wald" dran ist, dann kommt nicht erst die Theorie und danach noch mehr Theorie, sondern die Kinder gehen in den Wald, um dort zu (be)greifen, was die Natur an Fülle hervorbringt. Es werden Bäume gefällt, Holz gehackt, Äste gesammelt und Bleistifte geschnitzt. Ohne dass ein Kind dabei verblutet.
Das Leben in Dänemark scheint schön. Unsere Tochter meint, sie habe noch nie so ausgelassene und fröhliche Kinder gesehen. Es gibt keine Doppelstunden, nach jeder Stunde ist eine kurze Tobepause, die Eltern werden gebeten darauf zu achten, dass die Kinder nicht zu lange an den Hausaufgaben sitzen. Der Staat investiert viel, aber auch dort wird nun gekürzt. Die Paradiese werden rarer.

Warum klappt das bei uns nicht?
Ein Freund meint "Wir ersticken an Regeln und Vorgaben", ein Pfarrer sagt in einem Gespräch "Wir haben das Spielerische verloren". Unter unserem Büro hat eine pädagogische Praxis aufgemacht, in der Kinder mit diagnostizierter Legasthenie und Dyskalkulie von einer augebildeten Therapeutin therapiert werden. Es herrscht großer Andrang, die Mütter und Kinder wirken nicht glücklich. In Dänemark werden Kinder mit Lese- und Rechenschwäche nicht alleine gelassen, sie werden aus der Klasse genommen und von Förderlehrern darin ausgebildet "im Leben zu (be)stehen". Sie gehen einkaufen um Kuchen zu backen. Im Supermarkt wird ihnen ein bestimmer Geldbetrag gegeben, mit dem sie Mehl, Zucker, Butter und weitere Zutaten kaufen. Beim anschließenden Backen müssen die Zutaten gewogen und abgemessen werden. Dort ist man der Meinung, dass Lesen und Rechnen einfach dafür ausreichen muss, um das Leben leben zu können. Bei uns sollte das Lesen schon für eine Textanalyse und das Rechnen für eine Integralfunktion ausreichen. Ob wir das fürs Leben brauchen ist zweitrangig.
Die Fähigkeit im Leben körperlich und seelisch zu bestehen, ist unter dem Aspekt wichtig, dass wir in der Gesellschaft optimal funktionieren. Wir trimmen uns körperlich, geistig und emotional, damit wir fit sind unser Ziel anzusteuern - Erfolg. Erfolg macht uns wertvoll. Ist unser körperlicher oder seelischer Schaden zu groß um noch mithalten zu können, fallen wir raus. Es bleibt noch Paralympics. Seelisch gesehen tun das viele von uns. Wir treiben uns mit unseren Handicaps weiter dazu an ein Ziel zu erreichen. Liegt das in der Natur des Menschen?
Wenn ich Leute dazu frage wie sie unsere Gesellschaft finden und das, was wir so machen, sagen viele "Das ist krank und es macht uns krank". Aber wir sind die Gesellschaft, wir machen mit und wir akzeptieren, wir jammern gerne, aber wir akzeptieren, was mit uns gemacht wird, was uns abverlangt wird. Wir akzeptieren ein Leben unter Umständen, die uns körperlich und seelisch krank machen. Dann schauen wir nach Afrika oder Asien und sagen "Denen geht es doch dreckig, nicht uns". Stimmt das?

Es gibt Flüchtlinge, die vor Bürgerkrieg, Repressalien, Folter, Hunger davonlaufen und deren Ziel das gelobte Land ist, wo kein Krieg herrscht, keine Tyrannen und kein Hunger.
Es gibt Flüchtlinge, die vor innerem Unfrieden, Lieblosigkeit, Leere, Ausgehöhltsein, Einsamkeit davonlaufen, es gibt welche, die alle ihre Werte über Bord kippen um sich dem Tyrannen Profit auszuliefern und es gibt welche, die sich prostituieren um den Asylantrag im Camp der Erfolgreichen zu erhalten. Man muss sie nicht foltern, sie richten sich selbst, werfen sich vor Züge, von Hochhäusern, essen sich dick bis kurz vorm Platzen ohne ihren Hunger zu stillen oder erbrechen, was sie nicht verdauen können, trinken sich ins Koma, beamen sich weg mit Drogen und träumen sich in ferne Paradiese vor flimmernden Kisten.
Wir träumen uns an die Küsten der paradiesischen Länder, deren Menschen in uns die Bewohner der Paradiese sehen. Aus unserem sicheren Speckgürtel heraus sehnen wir uns nach all inklusive Palmenstränden, aber bitte ohne jegliches Risiko, während sie über die Straße gehen wollen, ohne Gefahr zu laufen erschossen zu werden.

Ich hatte nie ein Ziel, ich hatte immer einen Traum. Das Paradies für alle. Keine Ahnung wie, aber ist es nicht so, dass wir alle ein angeborenes Recht darauf haben? Auf Lebensumstände, die alle Kinder in Freiheit, Frieden und Liebe aufwachsen lassen? Umstände, die sie weder zu Maschinen noch zu Sexsklaven oder Soldaten machen? Sondern zu Menschen, die ohne Störung leben und lieben können?

"Wir mussten da alle durch. Das hat noch keinem geschadet".

Bei diesen Worten dreht sich mir der Magen um. Diese Sätze höre ich häufig, wenn es um Krieg geht und auch das Leben ist oft ein Kampf, von Erziehung in Härte, von Strafe, von Demütigung, von Ungerechtigkeit. Und von Schule. Oft gesprochen von Leuten, die genau dadurch gebrochen wurden. Ich widerspreche. Es schadet, wenn man gedemütigt wird, erniedrigt, runtergemacht, ausgeschlossen, abgestempelt, verhöhnt, geschlagen, missbraucht, gefoltert, angelogen, manipuliert, verwundet, verlassen. Auf welcher Ebene auch immer das passiert - es schadet.

Und ich träume von einer Zeit, wo keiner mehr durch muss.


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